Joachim Gauck über die Gefahren des Internets, die Regierungsfähigkeit der Linkspartei, die Rolle seiner Partnerin und über die Vorstellung, tatsächlich Bundespräsident zu werden.

Der Auftritt im Wiesbadener Landtag ist einer seiner letzten vor der Präsidentschaftswahl am Mittwoch. Anschließend stellt sich Joachim Gauck, der Kandidat von SPD und Grünen, den Fragen des Hamburger Abendblatts. Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler, der als Freiheitsmensch gefeiert wird, spricht erstmals über die Schranken, die er sich für das Internet wünscht.

Hamburger Abendblatt: Herr Gauck, kennen Sie eigentlich Ihr berühmtes YouTube-Video?

Joachim Gauck: Ich ahne, worauf Sie anspielen.

Darin erklären Sie, dass Sie nur noch Ehrenämter annehmen und es für jede Institution ein Armutszeugnis wäre, wenn sie die 70-Jährigen reaktivieren müsste. Ist Bundespräsident ein Ehrenamt?

(lacht) Es ist auch ein Ehrenamt, weil es mit Ehre verbunden ist, aber der Bundespräsident ist vor allem ein Verfassungsorgan. Er regiert das Land nicht, er repräsentiert es.

Dass SPD und Grüne dabei auf Sie gekommen sind ...

... ist natürlich kein Armutszeugnis. In dem Interview, das man jetzt im Internet sehen kann, ist es aber nicht um Staatsämter gegangen. Ich bin gefragt worden, ob ich mir vorstellen kann, in der evangelischen Kirche eine leitende Funktion zu übernehmen. Das habe ich in das Reich der Fabel verwiesen.

Wolfgang Schäuble, der selbst schon als Bundespräsident im Gespräch war, sagt: "Ohne Regeln und ohne Grenzen zerstört sich jedes freiheitliche System selbst." Würde der Freiheitsmensch Joachim Gauck diesen Satz unterschreiben?

Es gibt verschiedene Bereiche unseres Lebens, in denen wir ohne Regeln nicht auskommen. Freiheit heißt nicht Regellosigkeit.

Gilt das auch für das Internet?

Ich denke schon. Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein.

Ist es vermessen, dass die Netzgemeinschaft und ihr politischer Arm, die Piratenpartei, vollkommene Freiheit reklamieren?

Der Ruf nach unbegrenzter Freiheit hat einen Hang zur Vermessenheit. Das Netz ist nicht außerhalb der irdischen Wirklichkeit. Es wird von Menschen gemacht, es wird eingesetzt zur Kommunikation, aber auch zur Unterhaltung und für wirtschaftliche Aktivitäten. Dass dies - wie im realen Leben auch - nicht ohne Regeln funktionieren kann, ist doch klar. Auch im Internet hat man sich zu fragen: Was ist erlaubt, und was kann keinesfalls gestattet werden?

Können Sie sich vorstellen, Internetseiten zu sperren?

Ich würde das Löschen von Seiten unter bestimmten Bedingungen für wirksamer halten. In unserem Land mit unserer Geschichte darf all das, was in gedruckter Form verboten ist, im Netz nicht ohne Weiteres erlaubt sein: Aufstachelung zum Rassenhass oder Anstiftung zum Terrorismus können auch auf dieser Kommunikationsebene nicht außerhalb des Rechtsstaates stattfinden. Deswegen müssen solche Inhalte aus dem Netz gelöscht werden. Das Netz gehört zum Gesamten. Es ist nicht eine zweite Wirklichkeit. Das Prinzip "Second Life" kann man nicht so deuten, dass tatsächlich eine zweite Schöpfung existierte. Nicht jede Überlegung, Grenzen zu setzen auf diesem Gebiet, ist automatisch schon ein Angriff auf die Freiheit.

Die Justizministerkonferenz hat sich jetzt in Hamburg mit dem Internetdienst Google Street View befasst, der Straßenzüge auf der ganzen Welt abbilden will. Halten Sie staatliche Einschränkungen für geboten?

Diese Entscheidung obliegt den Parlamenten. Der Bundespräsident hätte dazu höchstens als Bürger eine Meinung.

Dann fragen wir den Bürger Gauck: Wie bewerten Sie die Speicherung persönlicher Daten nicht nur durch den Staat, sondern auch durch weltweit agierende Unternehmen?

Mit meiner Lebenserfahrung würde ich Eingriffe in Persönlichkeitsrechte - und das Sammeln von Daten gegen meinen Willen ist ja mit meiner Persönlichkeit verbunden - nur hinnehmen, wenn es wirklich seriöse und zureichende Gründe gibt. Unternehmen werden solche Gründe kaum geltend machen können.

Was wären solche Gründe?

Wenn es beispielsweise zur Gefahrenabwehr unerlässlich wäre, dass persönliche Informationen gesammelt werden. Das müsste allerdings rational und nachvollziehbar belegt werden. Ich halte nichts davon, pro forma alles so abzusichern, dass uns gar nichts passieren kann.

Die Vorratsspeicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten, die vom Bundesverfassungsgericht beanstandet wurde ...

... ist einem überbordenden Sicherheitsbedürfnis entsprungen. Unser Gemeinwesen ist deshalb so stabil, weil es unsere Grundrechte nachhaltig schützt. Es wäre hoch problematisch, nach der Regel zu verfahren: Erst die Sicherheit und dann die Persönlichkeitsrechte.

Viele Bürger geben freiwillig persönliche Daten preis, die dann von Unternehmen gespeichert werden ...

Wenn die Bürger über die Verwendung ihrer Daten informiert wären, Einspruch erheben könnten oder ein Löschen veranlassen könnten, hätte ich damit keine Probleme. Ich denke, dass der Staat hier in seiner Schutzfunktion gefordert ist. Wer soziale Netzwerke nutzt, sollte wissen, was mit seinen persönlichen Daten geschieht.

Nutzen Sie selber Facebook?

Nein.

Twittern Sie?

Nein. Bisher habe ich nicht das Gefühl, dass ich deswegen einen Verlust an Lebensqualität erleide. Vielleicht ist das in einigen Jahren ja anders.

Herr Gauck, können im Zeitalter des Internet Diktaturen Bestand haben?

Ich war immer der Meinung, dass keine Diktatur von Dauer sein kann. Und jede Erweiterung von Kommunikation ist eine Bedrohung für absolute Herrschaft. Es ist kein Zufall, dass Handys in Nordkorea verboten sind. Das Internet erschwert es Diktatoren, Zensur auszuüben - und beschleunigt ihren Niedergang.

Wäre die Berliner Mauer früher gefallen, wenn es das Internet vor 40 Jahren schon gegeben hätte?

Das Internet hätte eine Menge bewirkt. Es wäre für unsere oppositionellen Gruppen im Raum der Kirche sehr wichtig gewesen. Damit meine ich nicht nur die erleichterte Kommunikation zwischen den Oppositionsgruppen. Wir hätten beispielsweise die grundsätzliche Kritik der polnischen Opposition ausgiebig diskutieren können. Das Internet hätte uns sehr genützt und unsere Entschlossenheit gefördert. Es hätte einen ganz anderen Freiheitsatem in diese angepasste Gesellschaft der DDR geweht.

Könnte 20 Jahre nach der Einheit die Linkspartei, die aus der SED hervorgegangen ist, die Bundesrepublik Deutschland regieren?

Ich gehöre zu dem größeren Teil der politischen Öffentlichkeit, der diese Frage heute mit Nein beantwortet. Ich kann noch immer keine Bindung der Linkspartei an das europäische Demokratieprojekt erkennen. Und ich nehme keine Signale wahr, dass sich daran etwas ändern könnte.

In Nordrhein-Westfalen will eine rot-grüne Minderheitsregierung auf die Stimmen der Linken setzen. Das kann Ihnen nicht gefallen ...

In die parteipolitischen Überlegungen in den einzelnen Bundesländern kann und will ich mich nicht einmischen. Wenn Sie grundsätzlich nach der Regierungsfähigkeit der Linkspartei fragen, verweise ich auf deren Programmdebatte. Die Linkspartei hat bisher nicht zureichend erklärt, was sie unter Systemwechsel versteht. Will sie zurück zum Sozialismus? Ich wüsste nicht, auf welcher Basis etablierte Parteien auf Bundesebene mit der Linkspartei zusammenarbeiten sollten.

Die Präsidentschaftskandidatin der Linken, Luc Jochimsen, hat Sie persönlich angegriffen. Sie seien "unversöhnlich" mit den Bürgern der ehemaligen DDR. Berührt Sie das?

Das ist so neben der Wirklichkeit, dass ich mich darüber schon gar nicht mehr aufregen kann. Die DDR war eine Diktatur, und ich lehne jede Diktatur ab. Das ist kein Manko, sondern eine Bürgerpflicht. Nicht ich bin es, der sich hier zu rechtfertigen hat. Zu rechtfertigen haben sich jene, die darüber schweigen möchten, was Demokratie und was Diktatur ist. Totale Ablehnung gegenüber der Diktatur bedeutet doch nicht, dass man die Menschen abwertet, die unter dieser Diktatur gelebt haben. Das ist eine bösartige Unterstellung.

Jochimsen beschränkt sich nicht darauf zu schweigen. Sie sagt, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen .. .

Das muss ihr ja jemand erzählt haben. Denn sie selbst war eigentlich zu selten in der DDR, um das mit eigener Lebenserfahrung untersetzen zu können. Und wenn man sich fragt, wer ihr das erzählt haben könnte, kommt man auf den Gedanken: Sind das seriöse Informanten gewesen?

Würden Sie sich in der Bundesversammlung in einem dritten Wahlgang ...

... oh, Sie sind ein Optimist.

Sie rechnen gar nicht damit?

Ich habe gelernt, dass es unglaubliche Überraschungen gibt im Leben, die nahezu an ein Wunder grenzen. Ein dritter Wahlgang wäre eine freudige Überraschung.

Die Wahlmänner der Linken könnten am Ende für Sie stimmen - weil sie darin eine Chance sehen, Kanzlerin Merkel zu stürzen.

Das wird man dann sehen. Im Lager der Union und der FDP gibt es jedenfalls eine sehr viel größere Nähe zu meinen Themen und zu meiner Lebenshaltung als bei manchen Gewissensakrobaten von der Linkspartei.

In Ihrem Innersten werden Sie bedauern, dass der Bundespräsident nicht direkt vom Volk gewählt wird ...

Wenn man in den Meinungsumfragen so gut liegt wie ich, wäre es ein billiges Vergnügen, sich für eine Direktwahl auszusprechen. Ich möchte dem widerstehen.

Aber Sie sind schon ein Anhänger direkter Demokratie.

Ich möchte gerne, dass sich mehr Bürger beteiligen an ihrer Demokratie. Deswegen sind mir plebiszitäre Elemente wichtig - auch wenn Politiker im Bundesland Hamburg gerade darüber stöhnen, dass das Volk plötzlich seine Meinung zur Schulreform sagen will.

Was bedeutet das für die Wahl des Bundespräsidenten?

Im Moment tendiere ich eher gegen eine Direktwahl. Man müsste einem direkt gewählten Bundespräsidenten wahrscheinlich mehr Befugnisse geben, was eine Schwächung der Regierung zur Folge hätte. Aber wir sollten eine Debatte über diese Frage führen. Dabei sollte auch das österreichische Modell, das eine Direktwahl vorsieht, betrachtet werden.

Malen Sie sich manchmal aus, wie Ihre Zusammenarbeit mit der Kanzlerin wäre? Oder erübrigt sich das, weil Merkel zurücktritt, wenn sie ihren Kandidaten Wulff nicht durchsetzen kann?

Warum sollte Frau Merkel zurücktreten? Wie kann man nur ein so enges politisches Denken haben?

Dieses Denken haben gerade ganz viele Menschen im Land.

Problemlagen bedeuten ja nicht, dass man handlungsunfähig wäre. Manchmal eröffnen Krisen sogar besondere Innovationen.

Welchem Staatsoberhaupt - in Deutschland und der Welt - möchten Sie ähnlich sein?

Fragen Sie mich das noch mal in drei Wochen.

Sie sind evangelischer Theologe. Könnte der Papst für Sie ein Vorbild sein?

Das könnte er schon. Der Papst ist eine Instanz, in der sich in einer Person das Gesamte verkörpert. Es hat Worte von Päpsten gegeben, die das Herz eines Evangelischen wie auch das Herz manches Atheisten bewegt haben. Als Johannes Paul II. seinen polnischen Landsleuten jenes einfache "Fürchtet euch nicht" zurief, hat das im ganzen östlichen Europa die Herzen erreicht - unabhängig von der Religion.

Wenn Sie am 30. Juni tatsächlich Staatsoberhaupt werden - besuchen Sie dann das Finale der Fußball-WM in Johannesburg?

(lacht) Da würde ich gerne hinfahren, ganz gleich, in welcher Position ich bin. Wenn das Erstaunliche eintreten sollte ...

... meinen Sie jetzt Ihre Wahl zum Staatsoberhaupt oder die Finalteilnahme der deutschen Nationalmannschaft?

Beides ist zurzeit mit sehr vielen Unwägbarkeiten verbunden. Beides zusammen ist noch viel unwahrscheinlicher. Trotzdem würde ich das Finale gerne im Stadion erleben.

Sie leben in einer Fernbeziehung mit einer Nürnberger Journalistin. Welche Rolle spielt Ihre Partnerin, wenn Sie Staatsoberhaupt werden?

Daniela Schadt würde an meiner Seite sein.

Sie wäre plötzlich First Lady.

Das würde ihr sehr fremd vorkommen. Zu ihren Vorzügen gehört, dass sie fest mit dem Erdboden verbunden ist. Und der ist einstweilen ihre Redaktion in Nürnberg. Wenn die wunderbaren Dinge eintreten, dann wird sie sich verhalten, wie es normal ist in einer funktionierenden und stabilen Beziehung.

Kneifen Sie sich manchmal und sagen: Das kann doch alles gar nicht wahr sein?

Ja, das passiert.