Erhalten oder abreißen? Jahrelang wurde um die Zukunft des Quartiers gerungen, jahrelang wurde saniert. Heute ziehen die ersten neuen Mieter im Gängeviertel ein. In aufwendig modernisierte und ziemlich günstige Wohnungen

Schon von der anderen Straßenseite aus fallen die filigranen Arbeiten an der Außenfassade auf. Wer in der Caffamacherreihe dann näher an das Gebäude herantritt, kann die feinen Bögen und sauber ausgearbeiteten Verzierungen gut erkennen. Jahrelang war das Wohnhaus hinter einem Gerüst und schmutzigen Planen versteckt. Jetzt erscheint es selbst im fahlen Januarlicht wie ein in dunklem Grün gehaltenes Schmuckstück.

Hans-Joachim Rösner, Geschäftsführer der Stadtentwicklungsgesellschaft (Steg), öffnet die hölzerne Eingangstür. Der Geruch frischer Farbe schwebt in der Luft, die Geräusche von Bauarbeitern sind zu hören. Als Rösner das Flurlicht einschaltet, werden verwaschene Grafitti an den Wänden sichtbar. Hier und da kann man frisch verputzte Mauerflächen sehen. Die Wohnungstüren wurden zwar ausgebessert, aber nicht neu gestrichen. Und genau so soll es sein. „Die künftigen Mieter wollten Türen und Wände unbehandelt lassen“, sagt Rösner.

Die neuen Mieter sind Mitglieder der Gängeviertel-Genossenschaft, die mit dem heutigen Tag ihre Wohnungen im sogenannten Kupferdiebehaus beziehen können. Wer genau die künftigen, von der Genossenschaft ausgewählten Bewohner sind, darum wird erstmal ein Geheimnis gemacht. Jedenfalls dürfen sie sich glücklich schätzen, denn sie beziehen die ersten sechs Wohnungen, die seit dem Start der Sanierungsarbeiten im Gängeviertel im Oktober 2013 fertiggestellt wurden. Und nun wird sichtbar, dass der vor einigen Jahren geführte erbitterte Kampf um den Erhalt der Reste des historischen Wohnviertels sich gelohnt hat.

Steg-Geschäftsführer Rösner schließt eine Wohnungstür auf. Der Dielenfußboden ist abgezogen, die Wände leuchten in frischem Weiß. „Vier der sechs Wohnungen sind zwischen 80 und 90 Quadratmeter groß und für drei Bewohner vorgesehen“, sagt Steg-Architektin Karin Dürr. Die beiden anderen Wohnungen haben jeweils fast 160 Quadratmeter. Sie entstanden durch das Zusammenlegen von zwei Einheiten und sollen Platz für Wohngemeinschaften bieten.

Durch die neuen, wärmedämmenden Fenster ist der Straßenlärm von der Caffamacherreihe kaum zu hören. In einigen Zimmern haben die Bauarbeiter Stuckverzierungen freigelegt. In einer Küche sind noch die alten Fliesen zu erkennen und der rot-weiße Steinfußboden. Wasser- und Elektroleitungen wurden neu verlegt. Auch die Bäder und Toiletten kommen eher modern daher. Die Hinterhofseite des Gebäudes ist nach den neuesten energetischen Standards gedämmt.

Vor fünf Jahren sah das noch komplett anders aus. Eine Bestandsaufnahme im Sommer 2010 hatte das ganze Ausmaß der Sanierungsbedürftigkeit des Viertels deutlich gemacht. Die Fundamente waren schwach, viele Gebäude über die Jahrzehnte durchfeuchtet. Neben maroden Fenstern und bröckelnden Fassaden stellten die Dachstühle eine besondere Herausforderung dar. Klar war auch: Sanitäranlagen, Heizung und Elektroleitungen müssen vollständig erneuert werden.

„Wir haben in 42 Sitzungen mit Vertretern der Genossenschaft zusammengesessen“, sagt Rösner. Hoch hergegangen sei es da manchmal, weil die Wünsche von Denkmalschützern, Genossenschaftlern und der Steg unter einen Hut gebracht werden mussten. Nicht alles, was gewünscht wurde, konnte umgesetzt werden. Ein „Koste-es-was-es-wolle“ wäre angesichts der schwierigen finanziellen Situation Hamburgs öffentlich nicht zu vermitteln gewesen.

Und da die Sanierung des Gängeviertels vom Steuerzahler bezahlt wird – Hamburg wendet rund 20 Millionen Euro dafür auf –, gelten die Regeln öffentlicher Förderung. So habe man etwa bei den aufwendigen Holzverblendungen innen unter den Fenstern günstige Varianten gewählt und auf neue Balkone auf der Hofseite ganz verzichtet, sagt Rösner.

Lediglich 5,45 Euro Miete pro Quadratmeter müssten die neuen Mieter bezahlen, sagt Architektin Karin Dürr. Damit ist das Ziel der Initiative, Künstlern in der Innenstadt preiswerte Räume zum Arbeiten und Wohnen zur Verfügung zu stellen, erreicht. Rund 2,1 Millionen Euro habe die Sanierung der sechs Wohnungen und des Gewerberaumes gekostet, sagt Steg-Chef Hans Joachim Rösner – etwa zehn Prozent der Sanierungsaufwendungen für das gesamte Gängeviertel. Die reinen Baukosten hätten sich im „Kupferdiebehaus“ auf 2100 Euro pro Quadratmeter summiert. Die gesamten Sanierungskosten lägen bei 2450 Euro pro Quadratmeter. Damit gehöre das Projekt zu den aufwendigsten, das die Steg je umgesetzt habe, sagt der Geschäftsführer.

Einer der Gründe, warum die Stadt sich das leistet, dürfte die bundesweite Bekanntheit des Gängeviertels sein. Seit dem Jahr 2002 stand ein Teil des Gebäudekomplexes zwischen Valentinskamp, Caffamacherreihe und Speckstraße überwiegend leer und rottete vor sich hin, ohne dass es zu nennenswertem Protest kam. Fachwerkgebäude aus dem 18. Jahrhundert und Hofbebauungen aus dem 19. Jahrhundert waren dem Verfall preisgegeben, obwohl sie in den Jahren 1987 und 2001 unter Denkmalschutz gestellt worden waren. Einer Volksinitiative für eine künstlerische Nutzung des Viertels war zunächst kein Erfolg beschieden.

Der niederländischer Investor Hanzevast begann 2008, die Reste des Gängeviertels zu erwerben. Zwölf Gebäude sollten – bis auf einige Fassaden – abgerissen und durch Bürobauten ersetzt werden. Für andere Gebäude waren Sanierung und Aufstockung vorgesehen. Die Baugenehmigung wurde vom schwarz-grünen Senat im September 2009 erteilt.

Doch da hatte sich das Blatt bereits gewendet. Am 22. August 2009 besetzen etwa 200 Künstler das Gängeviertel, forderten den Stopp des Verkaufs und den Erhalt der historischen Gebäude. Ziel war es, Werkstätten und Räumlichkeiten für Kreative und Künstler zu schaffen. Das Abendblatt berichtete ausführlich und mit viel Sympathie über die Forderungen der Künstler. Viele Hamburgerinnen und Hamburger machten – anders noch als in den Jahrzehnten zuvor – daraufhin deutlich: die Stadt müsse sorgsamer mit ihrem historischen Erbe umgehen.

Es wurde der Slogan „Komm in die Gänge“ geboren und bis weit in bürgerliche Kreise hinein formierte sich Widerstand gegen einen Abriss. Im November 2009 wurde das Manifest „Not In Our Name, Marke Hamburg“ ausgerufen. Die Anhänger der Gängeviertel-Initiative versprachen „ein selbstverwaltetes, öffentliches und lebendiges Quartier mit kulturellen und sozialen Nutzungen“. Vor so viel öffentlich unterstütztem Widerstand kapitulierte der schwarz-grüne Senat. Im Dezember 2009 wurde der Verkauf an Hanzevast zurückgenommen. Die bereits gezahlten knapp 2,8 Millionen Euro erhielt der Investor zurück.

Dass vor allem um die Überreste des Gängeviertels eine so heftige öffentliche Auseinandersetzung entbrannte, entbehrt allerdings nicht einer gewissen Ironie. Schließlich galt das besonders eng bebaute Gängeviertel im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als eines der miesesten Wohnquartiere in Hamburg. Die in Fachwerkhäusern untergebrachten Wohnungen waren zumeist nur über schmale Gassen und labyrinthartige Hinterhöfe zu erreichen. Die Wohnungen selbst galten als feucht, dunkel und ließen sich nicht ausreichend belüften.

Die rasche Zunahme der Wohnbevölkerung innerhalb der Hamburger Stadtmauern verschärfte die Wohnungssituation der oftmals mittellosen Bewohner. Großfamilien lebten in einem einzigen Raum, Dutzende Menschen mussten sich eine Gemeinschaftstoilette teilen. Das Gängeviertel war das Wohnquartier, von dem aus sich im Jahr 1892 die Cholera ein letztes Mal in Hamburg ausbreitete. Als der Berliner Mediziner Robert Koch sich im Viertel umsah, sagte er fassungslos: „Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin.“

Wegen der schrecklichen hygienischen Zustände, aber auch aus sozialen und politischen Gründen begannen im Gängeviertel schon Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Sanierungsmaßnahmen, zumeist durch den Abriss einzelner Gebäude. Diese Methode setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Die letzten größeren Bereiche des Gängeviertels wurde in den 1960er Jahren beseitigt.

Nach dem Erfolg der Initiative für den Erhalt der letzten Reste, begann die eigentliche Debatte, was mit dem Gebäudekomplex denn nun werden soll. „Es ist bislang noch nie dagewesen, dass mit einer früheren Besetzer- und künftigen Nutzergruppe so intensiv über ein Bauprojekt gesprochen und Kompromisse gefunden wurden“, sagt Steg-Chef Rösner. Auch wenn das viel Arbeit gewesen sei – es habe sich gelohnt. Rösner hofft, dass mit dem Einzug der ersten Mieter nun auch mehr Realismus in die Gespräche Einzug halte.

Dabei weiß der Steg-Chef, dass seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wieder Überzeugungsarbeit leisten mussten und müssen. So hatten die Vertreter der Genossenschaft bis zuletzt gefordert, dass die Pflicht zur Mitgliedschaft im Mietvertrag verankert werden müsse. „Das geht schon rein rechtlich nicht“, sagt Rösner. Schließlich bleibe das Gebäude bis zu einem möglichen Verkauf an die Genossenschaft im Eigentum der Stadt. Und die Stadt könne einem Mieter nicht per Vertrag die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft vorschreiben.

Am Ende werden 79 Wohnungen – alles Sozialwohnungen – und 21 gewerbliche Einheiten entstehen. Die Mietpreis- und Belegungsbindung gilt 21 Jahre lang. In dieser Zeit dürfen die Wohnungen nicht verkauft werden. „80 Prozent der sanierten Fläche wird dem Wohnen dienen“, sagt Rösner.

Dem Zeitplan zufolge startete die Sanierung zuerst im Gebäude Caffamacherreihe 43-49. Dann folgte das Haus mit der Nr. 37-39 sowie die „Fabrique“, die im Herbst dieses Jahres übergeben werden soll. In der Fabrik wurden einst Gürtel und Schnallen hergestellt. Künftig soll sich dort der kulturelle Mittelpunkt des Quartiers befinden. Um die „gleichzeitige“ Sanierung von Gebäude und Fabrique hatte es Streit gegeben, da den Künstlern der vorübergehende Verlust von Räumlichkeiten drohte.

Der Zeitdruck aber war entstanden, weil rund 400.000 Euro Zuschuss von der EU für die soziale Stadtteilentwicklung bis Ende des Jahres ausgegeben werden mussten. Das Problem wurde durch die Anmietung von Räumlichkeiten im Oberhafenquartier in der östlichen HafenCity gelöst. Für 18 Monate mietete der Verein „Gängeviertel“ dort das dreistöckige Backsteingebäude der ehemaligen Bahnmeisterei.

Auch wenn Steg-Chef Rösner am gestrigen Donnerstag sehr zufrieden mit dem erreichten Etappenziel schien. Es sei eben nur ein Etappenziel, sagte er. Die Genossenschaft wolle die Gebäude eigenständig verwalten, was bedeute, dass man einen Verwaltungsvertrag aushandeln müsse. Rösner weiß, dass da noch viel Arbeit auf ihn wartet.