Hamburger Begegnungen, Teil 10: HSV-Coach Zinnbauer trifft Amateurtrainer Wolfgang Witte vom SV Lurup

Keine Frage, es gibt gemütlichere Treffpunkte als die karge Spielerkabine des SV Lurup. Doch wen interessiert das nüchtern gekachelte Umfeld, wenn der Gesprächsstoff anregenden Charakter hat? Flugs kommen HSV-Chefcoach Josef Zinnbauer und Amateurtrainer Wolfgang Witte auf den Punkt. „Ohne Fußball könnte ich nicht leben“, stellen beide unisono klar. Verbales Vorspiel, was ist das denn? „Ich bin der Joe“, hatte der Profi zu Beginn dieser Hamburger Begegnung gesagt und dem Kollegen kraftvoll die Hand gereicht. Schnörkelloser kann man nicht zum Du kommen. Sodann ließ sich das Duo auf der Holzbank nieder und legte los.

Die Anlage des anno 1923 gegründeten Hamburger Traditionsvereins an der Flurstraße mit 2100 Mitgliedern in 27 Sparten und der erstaunlichen Quote von 50 Prozent Kindern und Jugendlichen ist Zinnbauer bekannt: Als Trainer des VfB Oldenburg gab es vor ein paar Jahren einen Auswärtssieg. Rund 200 Zaungäste waren damals dabei. Jetzt am Sonntag im Nordderby gegen Werder Bremen werden 57.000 Besucher erleben, ob sich die Motivationskunst des Fußballlehrers auf die Beine und das Schussvermögen seiner Männer überträgt.

Auch HSV-Fan Witte wird mit einem Enkel im Stadion sein. Lennart, eines dieser vier Enkelkinder, brachte Großvater Wolfgang dazu, nach Jahrzehnten aktiven Fußballspielens in Reihen des SV Blankenese den Club zu wechseln: Neustart im SV Lurup. Und plötzlich nahm das Leben des Rentners einen unerwarteten Verlauf: Erst engagierte sich der Sportfreak als Betreuer von Lennarts E-Jugend, dann als Teamleiter und letztlich als lizensierter Trainer. Ergebnis: Heute dirigiert der früher selbstständige Klempnermeister als Spartenleiter der Fußballjugend ein Team aus 55 Trainern und Betreuern, die sich wiederum um zehnmal mehr Nachwuchs kümmern. Seitdem dreht sich alles nur noch um die Pille.

Kennt Kollege Joe gut, das eine wie das andere. Interessiert und aufgeschlossen lauscht er Wolfgangs Erfolgsgeschichte. Er selbst spielte früher bei einem Dutzend Vereinen, darunter auch in der Zweiten Liga, bevor er über sieben Trainerstationen beim Bundesligaclub mit der Raute landete. Spieler wie Fans schwören auf den Mann mit den mindestens drei Akkus. Seit seinem Sprung ganz nach oben vor gut zwei Monaten legte der Turbo noch einen Zahn zu. Zwischenresultat: minus fünf Kilogramm Körpergewicht – bei zuvor mit 74 Kilogramm bei 1,80 Metern Größe ja auch nicht gerade fetten Werten.

Und auch wenn Witte wie Zinnbauer in ihrem Metier zuletzt Verblüffendes vollbrachten, trennen sie doch Welten. Genau so sollen sie sein, die Hamburger Begegnungen: Freigeist, Toleranz und Wissbegierde machen den Blick frei. Nicht um besser oder mehr geht es, sondern um andersartig.

Vielfalt prägt beide Seiten, ganz das Gegenteil von uniformierter Lebensweise. Handwerksmeister Wolfgang Witte wechselte vom Chef einer mittelständischen Firma vor Ort in Lurup ins Ehrenamt mit kaum weniger Zeitaufwand. Kollege Joe Zinnbauers Dasein war schon immer derart facettenreich, dass ihn das ZDF 1994 als 24-Jährigen ins Sportstudio lud: Wer spielt sonst schon als Profi im bezahlten Fußball und steht parallel als Unternehmer wirtschaftlich auf eigenen Beinen? Dass er mit 21 einen Ferrari besaß, ist legendär. Dass dieser Bolide unbenutzt in der Garage steht, wird gern übersehen. Als Dienstwagen wird aktuell ein Audi genutzt; privat schafften sich Irena & Joe just einen Fiat 500 an. Spitzname: Topolino, das Mäuschen. Der Wagen.

Und welche Lehren haben die beiden aus ihrer Berufserfahrung transferiert? Jetzt kommt der ohnehin schon agile Joe richtig in Fahrt, und man ahnt die Ursache des purzelnden Gewichts. Temperamentvoll gestikulierend berichtet er von seiner ständigen Suche nach Austausch, von Führungsqualitäten, von hohen, nein höchsten Ansprüchen. „Ich verkaufe meine Philosophie“, ruft er aus. Dazu gehöre es, sich als Vorbild zu präsentieren. Kneifen gilt nicht. Prinzipien der Unternehmensführung ließen sich auf den Sport übertragen. Amateurmann Witte nickt heftig. Auch er profitiert heute vom Erfahrungsschatz ehemaliger Lehrgänge der Handels- und der Handwerkskammer. „Wenn du nicht Gutes vorlebst, nimmt dich keiner ernst“, weiß er. Zum Beispiel in Sachen Pünktlichkeit, Disziplin, Zuverlässigkeit. Diesmal stimmt Zinnbauer zu. Einer wie der andere haben gelernt und geben weiter: Stillstand heißt Rückschritt. Leitsatz: Geht eine Sache plangemäß voran, bedarf es weniger Energie, als wenn man bei null beginnt. „Wie bei einer Lokomotive“, ergänzt der HSV-Trainer.

Zur Halbzeit dieser Begegnung wird der Platz gewechselt: Im Clubhaus warten ein gemütlicheres Umfeld, Kaffee und Kekse. Zinnbauer bleibt knallhart: Wasser, sonst nichts. „Wenn du unter Dampf stehst, vergisst man leicht das Essen“, meint er. Nun denn.

Mit viel Gefühl und Verständnis für das Arbeitsumfeld des Amateurkollegen erzählt Zinnbauer von seinem Elternhaus. Der Vater, ein Braumeister, war ein Malocher, der Lohn für außerordentlichen Einsatz erntete. Als die Familie mitsamt dem zehnjährigen Joe, Bruder Christian und Schwester Diana nach Nürnberg umzog, konnte sich Zinnbauer sen. ein Haus leisten. Vom Onkel gab es eine HSV-Fahne als Geschenk. Sie kam ins Kinderzimmer. Es waren die famosen Rautenjahre mit Meisterschaften und anderen Triumphen. „Urlaub bestand oft aus Hausumbau oder Tapezieren“, erinnert er sich. Ferien wurden, wenn überhaupt, im Campingwagen gemacht. Angeln in der Natur, das war nach Joes Geschmack.

Parallelen bringen zusätzlichen Gesprächsstoff. Witte wuchs ebenfalls mit zwei Geschwistern auf, machte Urlaub auf Campingplätzen, und auch sein Vater war als Werftarbeiter in Danzig „ein Malocher“. Stärke aus einer intakten Familie wurde beiden Trainern mit auf den Weg gegeben, Geld überhaupt nicht. Folglich musste jeder seinen Weg im Alleingang beschreiten. Gemachte Nester sehen anders aus. Ehrgeiz und Erfolgswillen drängten Zinnbauer mit 18 Jahren zum Auszug. Mit Büroarbeit und Aufräumen im Büro eines Kumpels in Göttingen verdiente sich der angehende Profifußballer mit 250 Mark Gehalt zusätzlich Geld. Ein Blick auf die Provisionsabrechnungen des Freundes für Bausparverträge oder Lebensversicherungen stellte die Weiche: Auch auf diesem Gebiet legte der ehrgeizige Oberpfälzer professionell los. In den Medien wird er von jeher als Millionär gehandelt. Klar, dass er über seine Bezüge beim HSV schweigt. Die Motivation, auf die Karte Fußball zu setzen, ist keine Frage des Geldes, sondern der Leidenschaft. Aber dazu später mehr.

Wolfgang Witte ist freimütiger. Kein Wunder bei den Beträgen. Als Jugendobmann erhält er 30 Euro. Im Monat. Pfeift er nebenbei noch als Schiedsrichter, werden 11,90 Euro pro Spiel gezahlt, Kosten für eine HVV-Tageskarte inklusive. Ein weiterer Einsatz am gleichen Tag bringt nur sechs Euro mehr. „Am Ende muss man in einem solchen Ehrenamt Geld mitbringen“, sagt Witte. „Freude und Erfüllung jedoch sind unbezahlbar.“

Nicht nur an den Werktagen, sondern auch am Wochenende ist volles Engagement gefragt – und das nach 40 Jahren Plackerei als Selbstständiger. Einsatzorte sind das Büro zu Hause, ein Arbeitsraum abseits des Trainingsplatzes. Zu seinem Stab zählen ein Co-Trainer und eine Betreuerin. Das war’s. Zinnbauer stehen elf Mann zur Seite: Co-Trainer, Fitnesstrainer, Torwarttrainer, Reha-Trainer, Mannschaftsarzt, drei Physiotherapeuten, Zeugwart und Busfahrer. In einer Kabine für fünf Personen hat er einen Spind. Im HSV-Zentrum befindet sich sogar eine Küche. Seit Joe der Boss ist, wird gemeinsam zu Mittag gegessen. Nach sportwissenschaftlich ausgeklügelten Rezepten, versteht sich.

Das etwa zwölf Quadratmeter große Trainerbüro ist mit Schreibtisch und Computer ausgestattet. Die Trainingspläne entwirft Zinnbauer auf einem Tablet-Computer, um sie später seinem Team auf Flipcharts zu präsentieren. Das findet Kollege Witter hoch spannend. Der HSV-Chefcoach zieht sein Smartphone aus der Hosentasche und zeigt, wie so etwas konkret aussieht: kleine rote Punkte, gestrichelte Linien und so weiter.

Auch Witte nutzt einen Laptop für seine Arbeit. Denn um Spielerpässe und anderes Organisationsgedöns muss er sich schon selber kümmern. Ist das Training mit seinen drei Kinder-Mannschaften beendet, tritt er am Rasenrand als Kiebitz in Aktion. Zinnbauer lacht laut auf: Das kennt er aus eigener Erfahrung. Im Großen wie im Kleinen, stellen beide fest, müssen Talente ausgespäht und angebunden werden. Nur wer von Begeisterung regiert wird, spart sich die Addition dieser vielen Stunden auf allen möglichen Bolzplätzen. „Gute Arbeit spricht sich herum“, sagt Witte. Zinnbauer bestätigt. Das Duo amüsiert sich königlich: Nach einem langen Tag unter dem Banner des Balls setzt sich der eine wie der andere abends vor den Fernseher, um Fußballspiele zu gucken. Weiterbildung heißt das dann.

„Man muss schon verrückt sein“, meint Witte. „So ist es“, sagt Zinnbauer. Gut, dass beider Frauen mitspielen und öfter auch mal mitgucken, auch wenn sie letztlich kein großes Interesse an dieser Sportart haben. Im Gegensatz zu den Kindern. Anfang Dezember geht Wolfgang Witte mit 30 Nachwuchskickern ins HSV-Stadion. Acht Euro die Karte im Familienblock. Der dreifache Vater Josef Zinnbauer schildert vergnügt, wie sein Nesthäkchen zu Hause in Eimsbüttel schon ganz begeistert mit dem Ball umzugehen versteht. Dabei wird der Buttje am 15. Januar erst zwei Jahre alt.

„Wenn du dieses Fußballfieber in dir spürst“, spricht der HSV-Stratege aus eigener Erfahrung, „hat dein Leben eine klare Überschrift.“ Und Lurups Aktivist philosophiert vom „Feuer, das in einem brennt“. Und wenn Spaß im Spiel ist, auch da sind die Herren einer Meinung, spüre man den Stress nicht mehr.

„Alles in meinem Leben ist Leidenschaft“, sagt Joe Zinnbauer. „Ich könnte nicht ohne Fußball.“ Kurze Pause. „Fußball ist mein Leben“, sagt Wolfgang Witte. Klinge kitschig, sei aber so. Ein Blick auf die Uhr signalisiert den Abpfiff: Zinnbauer muss zu seinen Jungs. Warm machen fürs Nordderby. Auf dem Weg aus dem Clubheim verspricht Witte, demnächst mal mit seinen Enkeln beim HSV-Training vorbeizuschauen. „Sag Bescheid“, ruft Zinnbauer zum Abschied, „dann sprechen wir weiter.“