85.000 Teilnehmer bei der langen Nacht der Gotteshäuser. Das Motto: „Beherzt“

Harburg/Rahlstedt. Binnur trägt ein Kopftuch und sitzt vor dem Altar der Alt-Rahlstedter Kirche. Bevor die Rapper vom „Come In“ auftreten, erzählt die Muslima, warum sie sich entschieden hat, Kopftuch zu tragen. „Party machen, kiffen, saufen, das fand ich nicht mehr so geil“, sagt sie – und liest weiter aus ihrem Tagebuch vor, das gerade in dem Buch „Zwischen zwei Welten“ erschienen ist. Nun betet die 16-Jährige fünfmal am Tag. Und das Kopftuch? „Ich habe das Gefühl, dass ich es nie wieder abnehmen werde“, betont die Harburger Schülerin, deren Familie aus der Türkei stammt.

Solche und andere Geschichten waren auf der 11. Nacht der Kirchen zu hören. Evangelische, katholische, afrikanische, orthodoxe und freikirchliche Gemeinden hatten am Sonnabend ihre 125 Gotteshäuser für mehr als 500 Veranstaltungen bis Mitternacht geöffnet. Beim größten ökumenischen Kirchenfest des Nordens gab es Besinnliches und Unterhaltsames für fast jeden Geschmack: Taizé-Lieder mit brennenden Kerzen in der Rathauskirche St. Petri, Münchner Augustiner-Bier in der Auferstehungskirche Lohbrügge, eine Prozession im katholischen Kleinen Michel und literarische Erstlingswerke von Jugendlichen in Rahlstedt, die zur Schreibwerkstatt der „Fantastischen Teens“ gehören.

„O mein Gott, was ist das denn?“, fragte eine junge Frau ihre Mutter, als auf der NDR-Bühne an der Spitalerstraße die Hamburg Gospel Ambassadors jubelten. Die afrikanisch-deutsche Gruppe aus Borgfelde sang gerade „Gott ist gut“, als flanierende Konsumenten in Einkaufslaune auf die religiös gestimmten Akteure trafen. Derweil zog eine Gruppe von Kirchenbesuchern, mit Pröpstin Ulrike Murmann und Diözesan-Administrator Ansgar Thim an der Spitze, von der St.-Petri-Kirche zur Spitalerstraße. Dazwischen lagen mindestens zwei feuchtfröhliche Junggesellenabschiede und viele neugierige Blicke von Passanten.

Wo Kirche auf Menschen zugeht, bleiben die Gotteshäuser nicht länger leer. Bis auf den letzten Platz besetzt war die St.-Petri-Kirche zur Andacht mit traditionellen Taizé-Liedern. Auch die katholische Kirchengemeinde St. Maria in Harburg konnte sich zum Auftakt der Kirchennacht über viele Besucher freuen. Ein Chor stimmte die Zuhörer auf das diesjährige Veranstaltungsmotto „Beherzt“ ein, später folgten Märchen mit Harfenbegleitung von Anna Lübsee und Andreas Buschmann. „Wir fangen ruhig an und später, wenn alle müde werden, pushen wir noch mal richtig“, versprach Diakon Peter Meinke, der unter den 150 Gästen einige unbekannte Gesichter entdeckte. „Die Menschen sollen sich in den Kirchen wohlfühlen“, sagte die Hamburger Pröpstin und Hauptpastorin Ulrike Murmann vor der Bühne an der Spitalerstraße. Dort wurde das ökumenische Fest von Bischöfin Kirsten Fehrs, Diözesan-Administrator Ansgar Thim und Hamburgs Zweiten Bürgermeisterin Dorothee Stapelfeldt (SPD) eröffnet. Für die Besucher gab es 2500 Segensbänder.

Bischöfin Fehrs hatte wenig später einen weiteren Auftritt – und zwar in der HafenCity. Seit Monaten muss sie von ihrem Amtssitz in der Shanghai-Allee auf die kaum zu übersehende Werbung für die Leichen-Schau „Körperwelten“ blicken. Plastinator Gunther von Hagens veranstaltet sie zum zweiten Mal in der Hansestadt. Nun aber konnte die Bischöfin eine Gegenausstellung eröffnen, die nicht den bloßen Muskel des Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern das Herz. „Lebenswelten. Zeig dein Herz“ heißt die Schau im Ökumenischen Forum.

Die Initiatoren um Pastorin Antje Heider-Rottwilm wollten mit einem ganz anderen Entwurf gegen das reduzierte Menschenbild protestieren – und Herz zeigen. Entstanden sind 100 unterschiedliche berührende Bilder. Darauf sind Passanten in der HafenCity zu sehen, die mit Mimik, Gestik und Requisiten zeigen, wofür ihr Herz schlägt. Da ist zum Beispiel die Frau mit ihrem Baby, die liebevoll das junge Leben behütet, der lebensfrohe Sprung eines Menschen und ein kleiner Junge mit einer viel zu großen E-Gitarre. „All diese Bilder strahlen eine Schönheit von jedem Einzelnen aus, die unabhängig von Alter oder Gewicht ist“, sagte Bischöfin Kirsten Fehrs. „Die Menschen dürfen so sein, wie sie sind.“

Kirchennacht-Besucherin Veronika Neumann war aus Neu Wulmstorf zur Ausstellungseröffnung gekommen. „Mir gefallen die Warmherzigkeit und die Aufgeschlossenheit der Leute“, sagt sie. „Das war eine sehr sympathische, bewegende und ermutigende Ansprache der Bischöfin“, ergänzt Ottmar Frank. Er hatte erst am selben Tag von der Nacht der Kirchen erfahren – und spontan teilgenommen.

Inzwischen kamen immer mehr Besucher in die Alt-Rahlstedter Kirche. Das Gotteshaus, dessen ältesten Teile aus dem 12. Jahrhundert stammen, bildete die Kulisse für die erste „Jugend-Literatur-Kirche“. In Kooperation mit der Schreibwerkstatt „Fantastische Teens“ und der Literaturmanagerin Annette Pauw lasen dort Jugendliche aus ihren literarischen Erzählungen, die unter fachkundiger Anleitung von Schriftstellern wie Andreas Kollender entstanden sind. Die 16-jährige Karen Thomberg vom Margaretha-Rothe-Gymnasium hat über die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich geschrieben. „Mich fasziniert am Schreiben, dass ich eine andere Welt schaffen kann“, sagt sie. Die jungen Zuhörer in der Kirche klatschten Beifall. Was ihre Altersgenossen geschrieben haben, ging ihnen wirklich zu Herzen. Auf der grünen Wiese vor der Kirche begannen unterdessen freiwillige Helfer am späten Abend mit dem Aufträumen. Ohne sie gäbe es dieses ökumenische Fest gar nicht. „Möglich ist die Nacht der Kirchen nur durch die Unterstützung von mehr als 1800 Ehrenamtlichen“, freut sich Pröpstin Ulrike Murmann. Die Veranstaltung zeige, wie Kirche lebendig werde: durch die Gemeinschaft.