Krimineller verstieß 78-mal gegen Auflagen. Fußfessel teils wirkungslos. Jetzt soll er erneut straffällig geworden sein

Hamburg. Als die elektronische Fußfessel 2011 in Hamburg eingeführt wurde, waren die Erwartungen hoch. Vor allem deshalb, weil das Gerät einen besseren Schutz der Bevölkerung vor aus dem Gefängnis entlassenen Schwerverbrechern versprach. Per GPS-Signal lassen sich mit dem Gerät beispielsweise Kinderschänder orten. Sobald sie sich einer zuvor festgelegten Verbotszone nähern, etwa einem Spielplatz, wird Alarm ausgelöst und die Polizei alarmiert.

Doch ein aktueller Fall führt das Prinzip der „lückenlosen Überwachung“ ad absurdum: Dutzende Male hat ein 44 Jahre alter Sexualstraftäter in Hamburg seine Fußfessel ungestraft nicht aufgeladen und war deshalb in den vergangenen Monaten mehrfach für längere Zeit außer Kontrolle. Außerdem hatte sich der Mann trotz Alkoholverbots immer wieder betrunken – ohne dass Sanktionen folgten. Hintergrund: Der Mann galt als besonders gefährlich, wenn er getrunken hatte. Darüber hinaus ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Mann seit März wegen eines erneuten Sexualdelikts. Der Mann heißt Andreas B., und er war zu dem Zeitpunkt der Vorwürfe der einzige entlassene Straftäter in Hamburg, der eine Fußfessel trug.

Es geht um 78 Fälle von Verstößen gegen die Führungsaufsicht, die der einschlägig vorbestrafte Sexualstraftäter Andreas B. seit August vergangenen Jahres begangen haben soll. Der Mann gilt als gefährlich: 2006 hatte er ein erst zwölf Jahre altes Mädchen vom WM-Fan-Fest auf dem Heiligengeistfeld in die Wallanlagen gelockt. Dort würgte und vergewaltigte er das Kind.

Andreas B. wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Der Schuldspruch umfasste eine weitere Vergewaltigung von 2005. Damals hatte das Landgericht Hannover allerdings nur eine Bewährungsstrafe verhängt – wegen einer „guten Sozialprognose“. Alkoholmissbrauch hatte bei beiden Taten eine wichtige Rolle gespielt.

Nach der Entlassung im August 2013 ordnete das Gericht Führungsaufsicht an. Neben zwei weiteren Weisungen verhängte es auch ein Alkoholverbot. Laut Gutachten ist der Mann ein exzessiver Trinker, der unter Alkohol besonders gefährlich ist und erst mit dem Trinken aufhört, wenn sein Pegel keine koordinierten Bewegungen mehr zulässt. Die Auflage: Zweimal am Tag musste er sich an der Wache Langenhorn melden, um sich einem Alkoholtest zu unterziehen. Die Beamten stellten dabei mehrfach fest, dass Andreas B. angetrunken war. War der Mann allerdings betrunken, dann „vergaß“ er oft, seine Fußfessel aufzuladen – ein klarer Verstoß gegen die Weisung, das Gerät ständig betriebsbereit zu halten. Ging es aus, lief ein Alarm in der gemeinsamen Überwachungsleitstelle aller Landespolizeien in Hessen auf. Von dort, so heißt es, versuchte man zunächst, Andreas B. telefonisch zu erreichen. Gelang das nicht, wurde die Polizei in Hamburg informiert. Die schickte dann eine Streifenwagenbesatzung zur Wohnung des Mannes in Langenhorn. „Manchmal wurde er dort angetroffen, manchmal aber auch nicht. Dann war er für längere Zeit außer Kontrolle“, sagte ein Beamter dem Abendblatt. War B. zu Hause, blieb den Beamten nichts übrig, als ihn in Gewahrsam zu nehmen: Sie mussten dann auf der Wache die Fußfessel aufladen. Das muss mehrfach vorgekommen sein. Das Kommissariat bekam eigens ein dienstlich geliefertes Ladegerät für die Fußfessel des 44-Jährigen. Nach 30 bis 40 Minuten Ladevorgang durfte der Mann wieder gehen – wenn er nicht zu betrunken war.

Erst vor einer Woche war Andreas B. erneut außer Kontrolle. Später tauchte er bei seiner Bewährungshilfe in Altona auf – betrunken. 1,12 Promille zeigte der Atemalkoholtest an. Auch gegen die dritte Weisung soll Andreas B. verstoßen haben: das Verbot, seinen Aufenthaltsort zu verlassen. So soll er einmal in einer U-Bahn eingeschlafen und bis nach Norderstedt gefahren sein.

Seit seiner Entlassung im August 2013 verstieß Andreas B. fortlaufend gegen Weisungen. Die Staatsanwaltschaft reagierte und fertigte mehrere Anklagen: Die erste ist vom 30. September, die zweite vom 23. Oktober, die dritte vom 30. Oktober. Warum ist es nicht zeitnah zur Verhandlung gekommen?

Der zuständige Richter war auf Anfrage am Mittwoch nicht erreichbar. Wie das Abendblatt erfuhr, könnte eine Verfahrensverzögerung darin begründet sein, dass das Gericht ein Gutachten zur Schuldfähigkeit von B. in Auftrag gegeben hat. Der Mann soll bei den meisten Verstößen so betrunken gewesen sein, dass er nicht zur Einsicht in sein Handeln in der Lage gewesen war. Fakt ist: Erst am Freitag vergangener Woche wurde die Unterbringung in einer Entziehungsklinik angeordnet. Das bestätigte die Justizbehörde.

Dass B. ungestraft gegen Weisungen verstoßen konnte, wiegt umso schwerer, weil er verdächtig ist, am 17. März 2014 eine weitere Sexualstraftat begangen zu haben. Nach Abendblatt-Informationen hatte er mit einer Bekannten in einer Wohnunterkunft Alkohol getrunken, wurde dabei sexuell zudringlich. Angeblich hat er die Frau mit einem Messer bedroht. Allerdings soll sie während ihrer Vernehmung unglaubwürdige Angaben gemacht haben. Ihre Aussage gilt als „nicht belastbar“.

Ein weiterer Sexualstraftäter in Hamburg hat Rechtsmittel gegen das Tragen der Fußfessel eingelegt. Er ist bis zur Entscheidung auf freiem Fuß – ohne das Gerät.