Damit bauen die Sieger ihre Führung auf 37:17 Erfolge aus. Jens Diekmann gab beim Schachturnier „Rechtes gegen linkes Alsterufer“ seine Erfahrung an seine Zwillinge Bjarne und Kjell weiter.

Hamburg. Zwei Schlauberger, ein Brett: Schach könnte die einfachste Sache der Welt sein. Wären da nicht 32 schwarze und weiße Figuren, der gegnerische Ehrgeiz, unendliche Möglichkeiten und taktische Gemeinheiten wie die Schottische Eröffnung.

Schottische Eröffnung? Zwei Bauern in die Mitte, den Springer daneben – mit diesem Anfang seines Gegners Emil hat Bjarne jedenfalls nicht gerechnet. Ruck, zuck gehen ihm Bauer und Springer flöten. Fingernägelkauend registriert der Neunjährige den Schwund. Doof gelaufen, irgendwie. Vater Jens rauft sich angesichts dessen das übersichtliche Haupthaar. „Ich kann da nicht hingucken“, sagt er. Weggucken kann er aber auch nicht. Sieben Minuten später ist sein Sohn geschlagen, der Vater das erste Mal schweißgebadet.

Jens Diekmann ist 43 Jahre alt, Schachliebhaber und Vorbild seiner Söhne Bjarne und Kjell. Heute hat er die beiden zum größten Schachturnier der Welt begleitet: „Rechtes Alsterufer gegen linkes Alsterufer“. 2500 Kinder im Congress Center Hamburg machen einen Höllenlärm, sind für Papa Diekmann aber ein vertrautes Gefühl. 1987 hat er mit dem Alexander-von-Humboldt-Gymnasium selbst den Wanderpokal gewonnen. Seitdem fährt er jedes Mal gern zum Hamburger Schachklassiker. Heute eben nicht mehr als Aktivposten, sondern als Vater, Mentor, Trainer und moralische Stütze. „Gewinnen ist schön. Aber Spaß ist das Wichtigste“, sagt er. Seine Söhne gehen für das rechte Alsterufer an den Start.

Seit 1958 gibt es das Turnier der Hamburger Schulen nun schon. Östliche Stadtteile gegen westliche Stadtteile – ein ewiges Ringen. In diesem Jahr verspätet sich allerdings das Grußwort von Schulsenator Ties Rabe (SPD). Zu seiner Entschuldigung hat er vorzubringen, dass er vorher an einer Veranstaltung mit noch längerer Tradition teilnehmen musste: der wöchentlichen Senatssitzung. Doch die flockige Begrüßung des Senators hören die Zwillinge Bjarne und Kjell schon gar nicht mehr. Ihr Team, die Harburger Schule in der Alten Forst, muss gegen die Barmbeker Adolph-Schönfelder-Schule ran. Händeschütteln, Schottische Eröffnung, kühlen Kopf bewahren. Jetzt gilt es für die acht Mannschaftskollegen.

Als die Zwillinge drei Jahre alt waren, haben sie das Schachbrett ihres Vaters im Arbeitszimmer entdeckt. Zunächst lernten sie korrektes Aufbauen, später dann spielen. „Seitdem sind sie mehr oder minder begeistert bei der Sache“, sagt Jens Diekmann. „Es ist eins meiner Hobbys“, meint Bjarne. „Macht halt Spaß“, ergänzt Bruder Kjell, der von sich behauptet, einen kleinen Tick besser zu sein. Aber auf Schwarz als Lieblingsspielfarbe können sich die Brüder einigen.

Laut diverser Untersuchungen fördert Schach weniger das Konkurrenzdenken. Vielmehr erhöht es die Konzentrationsfähigkeit von Kindern, und hilft ihnen, entscheidungsfreudiger zu werden. Nebenbei dient es der Entwicklung ihrer Intelligenz. Besonders leistungsschwächere Grundschüler profitieren davon erwiesenermaßen am meisten. Das haben Studien in Trier und München belegt. Wie groß der Nutzen exakt ist und worin er genau liegt, das gilt es noch zu untersuchen, meinte jüngst Prof. Robert von Weizsäcker, der Ehrenpräsident des Deutschen Schachbundes, bei einer Veranstaltung in Hamburg. An zwei Schulen der Stadt ist Schach schon Schulfach, an Vorbildern mangelt es ebenfalls nicht. Im CCH etwa konnten die Teilnehmer ihre geistigen Kräfte mit dem Jogi Löw des Schachsports messen, mit Schachtrainer Daniel King. Der Großmeister leitet unter anderem die Schachspalte der englischen Zeitung „The Guardian“.

Papa hat drei goldene Regeln

Noch backen Bjarne und Kjell im CCH kleinere Brötchen. Die drei goldenen Regeln von Papa kennen sie aber schon auswendig. Erstens: Spaß haben. Zweitens: Gucken, was der Gegner droht. Und drittens: Zeit lassen. Wobei die Sache mit der Zeit bekanntermaßen relativ ist. Denn als Bjarne am Brett loslegt wie die Feuerwehr, muss Jens Diekmann intervenieren: „Jungs, ihr habt alle Zeit der Welt. Also ganz ruhig.“ Aber an vielen Tischen haben die jungen Spieler Albert Einstein vielleicht falsch verstanden, der einmal sagte: „Schach ist das schnellste Spiel der Welt, weil man in jeder Sekunde Tausende von Gedanken ordnen muss.“

Im Smartphone-Zeitalter ist dieses Gedankenordnen zur Seltenheit geworden. „Darum ist Schach so wertvoll“, sagt Jens Diekmann. „Es lehrt, sich eine längere Zeit mit nur einer komplexen Sache zu beschäftigen.“ Der Sport sei Entspannung und Anstrengung zugleich. Seine Söhne scheinen das beherzigt zu haben. Sogar in Gesellschaft von fast 2500 anderen Kindern klappt das Konzentrieren. Klar wird auch am diszipliniertesten Schachtisch im CCH mal geboxt, geträumt und genörgelt. Aber wenn die Kinder spielen, spielen sie. Sie fokussieren sich auf die schnell wechselnden Sachverhalte. Und machen in der Zeit nichts anderes.

Nachdem Bjarne seine erste Partie noch wegen der gewieften Eröffnung verloren hatte, gewinnt er die zweite problemlos. Sein Bruder Kjell punktet in beiden Partien. Wie er das gemacht habe? „Ich hab ihn einfach verarscht“, sagt Kjell. Übersetzt heißt das wohl, dass seine Strategie aufgegangen ist. Aber Schachlatein muss ja nicht immer diplomatisch sein. Familie Diekmann fährt jedenfalls zufrieden nach Hause. Auch wenn es für ihre rechte Alsterseite nicht ganz gereicht hat.

Am frühen Nachmittag steht nämlich fest: Das linke Alsterufer schlägt zurück. Mit 632 zu 608 Punkten fielen auf der rechten Alsterseite mehr Könige. In der ewigen Bilanz enteilte das linke Ufer damit auf 37 Siege, während das rechte auf 17 Erfolge blicken kann. Doch spätestens im nächsten Jahr kann das schon wieder korrigiert werden. Familie Diekmann ist bestimmt dabei.