Während im Großen Konzertsaal jetzt die „Weiße Haut“ montiert wird, macht sich der Hamburger Stararchitekt Volkwin Marg Gedanken zum Bau und zur Kultur der Elbphilharmonie.

Nach der 16-Seiten-Dokumentation des Hamburger Abendblatts über die Kostenexplosion der Elbphilharmonie spricht einer der renommiertesten Hamburger Architekten über das Bauwerk: Volkwin Marg hatte schon vor Baubeginn bei einer Expertenbefragung davor gewarnt, sich die Kosten schönzurechnen.

Hamburger Abendblatt: Wie konnte so viel schiefgehen beim Projekt Elbphilharmonie? Wer hat da versagt, die Politik, der gesunde Menschenverstand oder beide?

Volkwin Marg: Beide. Früher gab es beim Bauen ein simples Dreiecksverhältnis der Verantwortung: erstens den Bauherrn, zweitens den Architekten, drittens den Unternehmer. Inzwischen ist das Ganze unübersichtlich, weil die Verantwortlichkeiten in eine Vielzahl von Zuständigkeiten aufgelöst werden.

Das hieße, es gibt keinen Unschuldigen?

Marg: Zumindest keinen Unbeteiligten. Hier ging es um die Unterschätzung von Risiken.

Also: Katastrophe mit Ansage?

Marg: Nein, nicht Katastrophe, sondern erhöhtes Risiko infolge gesteigerter Komplexität.

Alle waren überfordert und wussten es?

Marg: Alle fühlten sich wohl herausgefordert, aber nicht überfordert. Zum gewohnten Risiko kam eine Reihe ganz ungewöhnlicher Risiken hinzu.

Hätte man also verzichten sollen?

Marg: Nein, aber über die damit verbundenen Risiken hätte man sich im Klaren sein können. Weniger die technische Herausforderung war das Risiko, vielmehr die Termin- und Kostenrisiken.

Einer der Kardinalfehler beim Bau der Elbphilharmonie war, dass es der Stadt als Bauherr lange nicht gelang, die Architekten in den Griff zu bekommen.

Marg: Wen meinen Sie als Bauherrn?

Die Stadt.

Marg: Bauherr war doch die Kulturbehörde mit ihrer Senatorin? Die Stadt hat eine Baubehörde. Hat die gebaut? Hat sie nicht. Weil sie es nicht mehr kann. So ist es, wenn man Kompetenz durch Behördenabbau verliert.

Sind öffentliche Bauherren blauäugiger als andere, weil sie sich zu sicher fühlen, da sie ja nicht pleitegehen können?

Marg: Nein, bestimmt nicht. Es gibt Länder und öffentliche Bauherren, die diese Rolle beherrschen. Ich konnte nicht erkennen, wer der professionelle Bauherr war. Ausgerechnet die arme Kultursenatorin? Außerdem: Warum ist zuvor die Stadt in einen vorgegebenen Architektenvertrag hineingestolpert? Das ist doch ungewöhnlich, dass eine öffentlich finanzierte Ikone freihändig vergeben wird.

Ist das schlecht?

Marg: Nein! Aber das darf ein absoluter Fürst so machen oder ein Renaissance-Papst. Die brauchten sich nicht vor Steuerzahlern zu verantworten.

Es gab 2003 einen offenen Brief von Hamburger Architekten, die für Herzog & de Meuron plädierten. Sie nicht, warum?

Marg: Ich weiß es nicht mehr, wahrscheinlich war ich nicht da.

Hätten Sie denn die Elbphilharmonie gern entworfen?

Marg: Ja, natürlich! Aber kommen wir noch mal auf den Kern des Problems zurück: Es ging um eine architektonische und kulturpolitische Verheißung in einer extremen Situation mit absehbaren Komplikationen. Und warum entschloss sich der damalige Senat zum Bauen, dessen Bürgermeister am Anfang zur Idee des Konzerthauses widerstrebend nur „nice to have“ herausbringen mochte? Er gab einer medial beeinflussten starken öffentlichen Meinung nach. Und mit politischem Kalkül meinte er wohl, das opportunistisch ausnutzen zu können, obwohl er gar kein kulturpolitisches Programm hatte.

Waren auch Sie fasziniert von dem, was Sie damals sahen?

Marg: Ja, sicher. Mir war von Anfang an klar, dass der zuvor geplante Media-City-Port-Bürokomplex nicht realisierbar war. Als ich die Elbphilharmonie-Skizze sah, dachte ich: Da lässt die Berliner Philharmonie grüßen – und das auch noch auf einem Speicherblock von Werner Kallmorgen, in dessen Atelier ich als Student gearbeitet habe. Eine Kathedrale der Kultur! Ich habe das anfangs mit Staunen, mit Verblüffung und Wohlgefallen gesehen, aber nicht ernst genommen.

Und was bedeutete Ihnen der Entwurf?

Marg: Für mich war es eine forsche Herausforderung der Hansestadt, die einen ziemlich schäbigen Kulturetat hat und es bitter nötig hat, zu mehr musikpädagogischer Initiative provoziert zu werden. Eine sinnvolle Provokation für einen Senat, der stets zu wenig und dann nur genötigt Geld für Kultur ausgibt. So nahm die Idee ihren Lauf, und die mediale Überrumpelung mit der Begeisterung durch alle Bevölkerungsschichten fand ich faszinierend.

Bei einer Expertenanhörung 2005 sagten Sie: „Bei einer Kathedrale des Geistes hat noch niemand kleinkarierte Maßstäbe angelegt.“ Sie haben aber gewarnt, sich die Kosten „prophylaktisch schönzurechnen“. Offenbar können Sie hellsehen.

Marg: Nein. Aber meine Sorge war: Schon ein Umbau allein braucht 15 Prozent Kalkulationstoleranz, die Massenveranstaltungen in Hochhaushöhe ebenso, dazu noch die komplizierte Nutzungsmischung – Hotel/Wohnen/ Philharmonie – da bin ich bei 45 Prozent. Und wenn man zu einem so frühen Zeitpunkt Kosten nennt, zu dem das Projekt weder komplett genehmigt noch durchgeplant ist, kommen jeweils weitere 15 Prozent dazu. Das werden also ganz selbstverständlich 75 Prozent!

Wann haben Sie begonnen, die öffentlich genannten Preisvorhersagen zu glauben?

Marg: Ich habe niemals solchermaßen angesagte Preise glauben können. Und die Mogelei, ein Kulturprojekt über eine Mantelbebauung finanziell zu entlasten, ist ein alter Trick.

Es gab ja auch andere in der Frühphase, die vor Kostensteigerungen warnten.

Marg: Wir Architekten kennen das „Wunschkonzert“ der Begehrlichkeiten nur zu gut, die führen zu kostspieligen Änderungen bei jedem Projekt. Der Bauherr trägt die Verantwortung für zusätzliche Aufträge. Ein Architekt ist in der Regel der Letzte, der Wünsche nicht erfüllt ...

Ist ja nicht sein Geld...

Marg: Aber zusätzliche Arbeit. Wer bestellt, bezahlt. Das zu wissen, gehört zur Mindestqualifikation eines Bauherrn.

Die Kostenkontrolle ist seine Aufgabe?

Marg: Ja, seine und derjenigen, die er damit beauftragt. Dass Architekten dem Wunsch nachgegeben haben, eine Verheißung bildhaft aufzuzeichnen, die begeistert aufgegriffen wurde, ohne dass ein Grundriss enthalten gewesen wäre, kann man keinem Architekten vorwerfen. Ich auch nicht. Ich sitze auch nicht über Hartmut Wegener zu Gericht, der die Projektsteuerung als Krönung seines Berufslebens übernommen hatte, und auch nicht über eine Baufirma, der ungeklärte Vorlagen geliefert wurden. Wenn diese Baufirma nicht Kostennachträge und Terminverlängerungen forderte, ginge sie bankrott. Es gab einen Verdrängungsprozess in Sachen Kosten und Termine von Anfang an. Aber viel wichtiger bleibt die Frage: Was bekommt man am Schluss dafür?

Was bekommt man am Schluss dafür?

Marg: Eine wunderbare Herausforderung für die Kulturpolitik! Alle bilden sich ja ein, dass diese Philharmonie akustisch eine Stradivari wird. Nehmen wir mal an, es würde eine – dann muss man auch darauf spielen! Generalintendant Lieben-Seutter ist bestimmt ein tüchtiger Mann, aber es muss ja auch jemand die Musik hören wollen. Natürlich kann man sagen: Die Touristen kommen. Doch der Querschnitt der Touristen ist recht dumm und ungebildet. Touristen sind inzwischen so dumm, dass sie mit einem Mississippi- Dampfer auf der Elbe herumfahren und das für nordische Seefahrt halten. Genau das kann mit der Musik in der Elbphilharmonie passieren, wenn man sich auf normale Touristen verlässt.

Hören wir da Schadenfreude über kulturpolitische Versäumnisse?

Marg: Ich bin froh über die kulturelle Herausforderung. Aber sie ist nicht für den Massentourismus geeignet. Damit füllt man besser die für den einstweiligen Gebrauch gebauten Musicalhäuser. Ich finde das vollkommen in Ordnung, das ist erstklassiger McDonald’s, hochprofessionell. Aber die Elbphilharmonie ist eine Herausforderung zur Bewahrung eines Musikanspruchs ganz anderer Art, dem sich Hamburg stellen muss. Der braucht ein entsprechend gebildetes Publikum. Mit Sensationstourismus kann man die Elbphilharmonie nur zertrampeln.

Und was ist mit der erhofften Ikonenwirkung der schönen Hülle?

Marg: Eine Ikone, in der nichts drin ist, das haben die Emirate am Golf auch.

Ist es nicht sehr unhanseatisch, wenn man groß verkündet, das solle einer der zehn besten Säle der Welt werden?

Marg: Ja, sehr peinlich. Früher hatten die Berliner die große Klappe, nun riskieren das irgendwelche Hamburger.

Unter welchen Druck stellt die Elbphilharmonie ihre Heimat Hamburg?

Marg: Man erwartet von ihr mehr als eine äußerlich schon sichtbare Ikone in der Stadt-Silhouette. Sie steht da wie eine Kulturkathedrale, dazu muss sie auch in ihrem Innenleben werden. Und damit ist sie auch kulturell eine unübersehbare Landmarke, bedeutsam im Gegensatz zu den bedeutungslosen Hochhauserektionen als Auswüchse finanzieller Potenz.