Der Sanierungsstau durch Schäden an Straßen, Brücken, Behörden und Schulen belaufen sich auf 4,7 Milliarden Euro – allein in Hamburg. Bundesweit sind es laut Rechnungshof 100 Milliarden Euro.

Hamburg. Im Sommer steckten viele Hamburger auf dem Weg zur Ostsee im Stau vor der Baustelle an der maroden Rader Hochbrücke, im Herbst stockt der Verkehr an Baustellen in der Innenstadt, im nächsten Monat dürfte es ähnliche Bilder von der Autobahn-7-Brücke vor dem Elbtunnel in Heimfeld geben, wenn dort die tiefen Risse im Beton repariert werden müssen. Auf den Straßen in Hamburg werden Schlaglöcher zu fiesen Fallen, an den Schulen regnet es mancherorts durch, und an der Universität an der Bundesstraße mussten Gerüste aufgebaut werden, um Fußgänger vor herunterfallenden Fassadenbrocken zu schützen: Die öffentliche Infrastruktur, so scheint es, zerfällt seit Jahren – ohne dass die Stadt mit der Sanierung Schritt hält.

Ein Bild, das sich in vielen deutschen Städten und Dörfern zeigt. Auf 100 Milliarden Euro werden die Sanierungsstaukosten bundesweit geschätzt. Heftig wird in den Koalitionsgesprächen zwischen SPD und CDU in Berlin daher derzeit gerungen, wie man die Milliardenlücke schließen kann. 4,7 Milliarden Euro kostet mittlerweile nach jüngster Berechnung des Rechnungshofs der Sanierungsstau allein in Hamburg. Das sind 4.700.000.000 in Ziffern, gut sechs Elbphilharmonien könnte man mit diesem Betrag auf einen Schlag bauen.

Die Folgen spüren viele Hamburger im Alltag, aber auch wirtschaftlich nimmt der Sanierungsstau mittlerweile bedenkliche Formen an: So gilt der Hafen als wichtigster Exportumschlagsplatz für Deutschlands Maschinenbauindustrie. Doch kein Schwergut-Lkw aus Süddeutschland kann ihn mehr auf direktem Weg erreichen, sondern nur noch über lange Umwege, sagt etwa Gunther Bonz, Präsident des Unternehmerverbands Hafen Hamburg. Die schweren Fahrzeuge rumpeln dann nachts durch Dörfer und Stadtteile. Grund: Auf vielen Brücken der Hauptverkehrsachsen gelten Gewichtsbeschränkungen, weil sie so marode sind. Die A-7-Brücke bei Heimfeld derart, dass ihre Reparatur vorgezogen werden musste. Immerhin gut 50 Schwergut-Lkw-Ladungen aus dem Süden erreichen jedes Jahr den Hafen überhaupt nicht mehr und werden in Konkurrenzhäfen umgeleitet, schätzt Bonz.

Ganz genaue Zahlen zum Sanierungsstau gibt es nicht, weil viele Schäden noch gar nicht exakt kalkuliert worden sind. Die „Modellrechnung“ des Rechnungshofs basiert allerdings auf einer speziellen Prüfung 2011, aber an der „Größenordnung“ dürfte sich nicht viel verändert haben, heißt es dort.

Größter Posten beim Hamburger Sanierungsstau sind demnach die maroden Schulen: Allein drei Milliarden Euro setzen die Hamburger Rechnungsprüfer dafür an. 800 Millionen für die Sanierung der Universitäten in Hamburg, 57 Millionen für die Justizgebäude, 100 Millionen für die Sanierung des CCH und gut 700 Millionen für die dringende Reparatur von kaputten Straßen, Brücken und Tunnel in der Hansestadt. 29 Brücken in Hamburg gelten inzwischen als so marode, dass sie in den nächsten Jahren sogar komplett abgerissen und ersetzt werden müssen. Die Herstellungskosten des Hamburger Straßennetzes betrug nach Berechnung des ADAC einmal 3,9 Milliarden Euro. Jetzt sind so viel Straßen kaputt und mit Löchern übersät, dass das Netz nur noch 1,5 Milliarden Wert ist. Den Sanierungsstau auf Hamburgs Straßen schätzt der ADAC auch weit höher als der Rechnungshof ein. Gut 2,5Milliarden beträgt dabei die Lücke, sagt sein verkehrspolitischer Sprecher Carsten Willms. „Jeden Winter kommt es durch neue Schäden zu einer erheblichen Ausweitung dieses Betrags“, sagt Willms.

Nimmt man noch den Sanierungsstau der Deutschen Bahn hinzu, dürfte man dann auf mindestens sechs Milliarden Euro für die Beseitigung des Sanierungsstaus allein für Hamburg kommen. So gelten bei Bahnexperten die Sternbrücke der Bahn über die Max-Brauer-Allee und das Eingleis-Viadukt beim Bahnhof in Altona als dringend sanierungsbedürftig. Alte elektromechanische Stellwerke im Bereich Wedel müssten dringend erneuert werden oder auch alte Weichen in Eidelstedt. Bis zu 500 Millionen Euro könnte man allein auf Hamburger Gebiet in die Grundinstandsetzung investieren, heißt es in Bahnkreisen. Insgesamt geht selbst Bahnchef Grube von Investitionsstau der Bahn in Deutschland von 30 Milliarden Euro aus.

Doch wie konnte es zu solchen Lücken kommen? „Wir werden im Grunde jetzt dafür geprügelt, was vor Jahrzehnten schon versäumt wurde“, sagt der Hamburger Senatssprecher Christoph Holstein. Da ist etwas dran. Eigentlich müsste man beim Bau von Straßen und öffentlichen Gebäuden noch einmal mit 500 Prozent Mehrkosten in den Folgejahren rechnen, um sie auf neuem Stand zu halten, rechnen Experten vor. Doch das wird nicht gemacht, wie die Rechnungsprüfer am Beispiel Hamburg monieren. Unterhaltungskosten seien „nicht oder nicht vollständig ermittelt“ worden. Teilweise sei den Behörden der Unterhaltungsbedarf gar nicht bekannt. Anders ausgedrückt: Hamburg und viele andere Kommunen haben sich seit Jahrzehnten so verhalten wie ein Autokäufer, der zwar am Anfang viel bezahlt, dann aber nix mehr in Inspektionen oder Verschleiß investiert – und sich am Ende wundert, warum die Karre nicht mehr läuft.

Das heißt aber nicht, dass staatliche Institutionen besonders anfällig für eine solche Wirtschaftsweise sind. Die Hamburger Hochbahn und auch Hamburg Wasser mit seinem Siel- und Trinkwassernetz gelten sogar als vorbildhaft, sie finanzieren sich zu großen Teilen aus eigenen Einnahmen und investieren auch vorsorglich. Die Infrastruktur der Hochbahn sei „eingeschwungen“, heißt es beim Rechnungshof. Sprich: Der Zustand wird laufend in Ordnung gehalten. Ebenso bei Hamburg Wasser – und das sogar auf sehr gutem Stand. So gibt es beim Trinkwassernetz in Hamburg eine „Verlustrate“ von lediglich vier Prozent, der deutschlandweite Durchschnitt liegt bei etwa sieben Prozent und im privat betriebenen Londoner Netz sickert sogar 20 Prozent des kostbaren Guts durch marode Leitungen.

Der Hamburger Senat versucht unterdessen die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. „Erhaltung und Instandsetzung haben absolute Priorität vor Neubau“ – sagt etwa Wirtschafts- und Verkehrssenator Frank Horch (parteilos). Mit einem „Sanierungsprogramm Hamburg 2020“ ließ der Senat einzelne Sanierungsposten und Prioritäten bis 2020 schon einmal grob auflisten. Zudem gibt es einen behördenunabhängigen Sanierungsfonds für aktuelle Fälle, der bis 2019 mit insgesamt 165 Millionen Euro ausgestattet sein soll. Zwei Milliarden will der Senat in den Schulbau bis 2019 stecken. Davon werden allerdings auch Zubauten wie Kantinen finanziert, aber immerhin ein Drittel der anstehenden Sanierungen soll so bewältigt werden.

Der Opposition, obwohl selbst länger in der Verantwortung, gehen solche Pläne aber nicht weit genug: „Beim Thema Sanierung hat die SPD keine Linie und keine Strategie. Dabei ist der Sanierungsstau beträchtlich“, sagt etwa der Grünen-Fraktionschef in der Bürgerschaft, Jens Kerstan. Den Sanierungsfonds bezeichnet er als „Gute-Laune-Fonds der SPD, um nette Schlagzeilen zu produzieren“. Ganz konkret sieht allerdings die Sanierungsplanung der Verkehrsbehörde für dieses und das nächste Jahr aus. Der Etat für die Instandsetzung von Straßen und Brücken wurde jetzt auf knapp 90 Millionen pro Jahr heraufgestuft. Angesicht der viel geringeren Budgets in den Vorjahren eine „großartige Entscheidung“, wie ADAC-Mann Willms sagt.

Viel mehr als diesen Betrag können man jährlich auch kaum in die Straßensanierung stecken, sagt er. Den gesamten Sanierungsstau mit einem Beschlag zu bezahlen – wenn man es denn könnte – das würde wohl nicht funktionieren – so groß ist der Schaden inzwischen. Carsten Willms: „Dann würde man mit den vielen Baustellen die Stadt lahmlegen.“