Man muss andere Meinungen ertragen können – und nicht mit Gewalt gegen sie vorgehen

„Ich teile nicht, was du sagst, aber ich werde bis zum Tod verteidigen, dass du es sagen darfst.“ Es ist ein schon oft zitierter Satz, den die englische Schriftstellerin Evelyn Beatrice Hall 1906 über die Geisteshaltung des französischen Aufklärers Voltaire in dessen Biografie geschrieben hat. Ein Satz, der den hohen Wert der Meinungsfreiheit verdeutlicht wie kaum ein anderer in der europäischen Geschichte. Wie gut, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland und vielen Demokratien ehernes und konstituierendes Grundrecht geworden ist.

Dass Meinungsfreiheit aber nicht immer leicht zu ertragen ist, hat jeder schon einmal erlebt. Mitunter kann sie sogar eine Last sein. Fleischesser fühlen sich von den Vorträgen überzeugter Vegetarier genervt, Raucher wollen sich nicht von lamentierenden Nichtrauchern den Genuss ihrer Zigarette verderben lassen. Bundeskanzlerin Angela Merkel muss hinnehmen, wenn ihr SPD-Herausforderer Peer Steinbrück sie als unfähig beschimpft.

Und es gibt Situationen, in denen es deutlich ernster wird: Selbst mit abfälligen Bemerkungen mancher Gruppen etwa über Ausländer, Frauen, Homosexuelle, Minderheiten muss die Gesellschaft zunächst einmal umgehen. Und sie kann sich dagegenstellen. Mit Argumenten, mit Debatte und, wenn es die Lage hergibt und andere Rechte verletzt werden, auch mithilfe des Gesetzes. Mit Demonstrationen, mit Kunst und Wissenschaft, denn auch diese beiden sind vor der deutschen Verfassung frei.

Wenn Andersgesinnte allerdings einen wahlkämpfenden Redner einer offiziell zur Bundestagswahl zugelassenen Partei von der Bühne schubsen, mit Pfefferspray zuhörende Erwachsene und Kinder verletzen und sogar mit einem Messer bewaffnet drauflosstürmen, um ihn von seiner Meinungsäußerung abzuhalten, wenn also Gewalt den Argumenten vorgezogen wird, ist eine Grenze überschritten.

So geschehen am Sonnabend in Bremen, wo der Chef der Euro-kritischen Partei Alternative für Deutschland (AfD), Bernd Lucke, von mutmaßlichen Linksautonomen auf dem Podium angegriffen wurde. Sicher, die Ansichten der Partei und auch Teile ihre Personals mögen mitunter provokant sein – aber mit Faustschlägen und Waffen dagegen anzugehen ist nicht nur schäbig und sinnlos. Für die Täter ist es auch intellektuell entlarvend.

So ähnlich ist es jedes Jahr am 1.Mai, wenn Hunderte Vermummte mit schwarzen Kapuzen und Sonnenbrillen in Hamburg und Berlin aufmarschieren, um Fensterscheiben einzuschmeißen, Autos in Brand zu setzen, Krawall zu machen. Wenn Rechtsradikale mit Baseball-Schlägern auf Menschen mit ausländischen Wurzeln eindreschen. Wenn Fußball-Fans die Anhänger des Gegners verprügeln. Immer dann, wenn Gewalttaten statt Worte regieren und die, die Toleranz für die eigene Weltsicht einfordern, selbige schmerzlich vermissen lassen.

In vielen Ländern gibt es keine Meinungsfreiheit. Menschen, die ihre Meinung offen sagen, werden dort verfolgt, verhaftet, gefoltert, getötet. In vielen Ländern werden Menschenrechte und auch die Meinungsfreiheit mit Füßen getreten. In einem Land wie Deutschland, in dem wir die von Voltaire so hoch gelobte und sogar mit dem Wert des Lebens gleichgesetzte Freiheit zum Äußern der eigenen Meinung haben, ist es unsere Bürgerpflicht, sie auch zu verteidigen. Es ist deshalb ein gutes Signal, wenn Angehörige aller Parteien den Bremer Überfall verurteilen, obwohl sie mit der AfD im politischen Wettstreit des Bundestagswahlkampfes stehen. Es ist ein gutes Signal, dass die Polizei die Attacke ernst nimmt und ermittelt.

Keiner muss teilen, was Parteichef Lucke sagt – aber jeder sollte sich tunlichst dafür einsetzen, dass er es sagen darf. So wichtig uns unsere eigene Freiheit ist, so wichtig sollte uns auch die Freiheit der anderen sein.