Therapeuten protestieren: Legastheniker und Schüler, die nicht mit Zahlen umgehen können, sollen weniger Hilfe bekommen. Zahl der Fälle verdoppelt. Grüne befürchten eine Verschärfung der sozialen Spaltung.

Hamburg. Die Buchstaben tanzen, sie verschwimmen und formen sich nicht immer zu Wörtern. Wer den Text des Sechstklässlers, der eine Stadtteilschule besucht, lesen will, der muss die Kunst der Entschlüsselung beherrschen. Das überfordert viele Lehrer im regulären Unterricht. Und wie sollen Diktate eines Schülers bewertet werden, der unter Legasthenie, also einer ausgeprägten Lese- und Rechtschreibschwäche, leidet? Was aber mag in dem Schüler vorgehen, der erleben muss, dass er im Gegensatz zu seinen Mitschülern eine grundlegende Kulturtechnik nicht beherrscht?

Rund fünf Prozent, nach anderen Studien sogar zwischen sieben und 15 Prozent der Schüler gelten als Legastheniker. Etwa gleich hoch ist die Zahl der Menschen, die unter Dyskalkulie leiden, also die Grundrechenarten nicht anwenden können. Bemerkenswert ist, dass deutlich mehr Jungen als Mädchen Legastheniker sind. Bei der Dyskalkulie liegen die Mädchen vorn, aber nur knapp.

Wenn alle Förderprogramme an Schulen für die sogenannten Teilleistungsschwächen erfolglos geblieben sind, dann schlägt in Hamburg die Stunde der Außerunterrichtlichen Lernhilfe (AUL). Voraussetzung ist ein umfangreicher Antrag und die Diagnose von Legasthenie oder Dyskalkulie. Um außerunterrichtliche Lernhilfe zu erhalten, muss ein Schüler zu den fünf Prozent Leistungsschwächsten gehören.

Lerntherapeuten versuchen klassischerweise im Einzelunterricht, die Schüler mit Lesen, Schreiben und Rechnen vertraut zu machen. Häufig müssen sie in ihren Praxen erst einmal psychische Aufbauarbeit leisten, weil sich die Kinder nichts mehr zutrauen. „Ein Zweitklässler, der zum ersten Mal bei mir war, kroch gleich unter den Tisch und sagte: Ich rede nicht mehr“, erzählt Kerstin Krebs, die eine lerntherapeutische Praxis in Poppenbüttel betreibt. Viele Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche oder Dyskalkulie sind überdurchschnittlich intelligent, die Ursachen für die Defizite sind nicht geklärt. Zwischen zwei und drei Jahren dauert die Lerntherapie, soll sie zum Erfolg führen. „Wir haben 250 Fälle aus unserer Praxis ausgewertet. Zu 90 bis 95 Prozent wurde der Hauptschulabschluss erreicht“, sagt Lerntherapeutin Ute Lauth.

Fachleute und betroffene Familien befürchten nun, dass die außerunterrichtlichen Lernhilfen nicht in der bisherigen Qualität fortgesetzt werden können. Der Grund: Die Schulbehörde hat den Etat für die AUL 2013 und 2014 abgesenkt, obwohl die Anträge auf AUL dramatisch gestiegen sind.

Im Schuljahr 2011/12 hat es plötzlich eine Verdoppelung der Fallzahlen gegeben. Insgesamt wurden 726 Anträge auf außerunterrichtliche Lernhilfen in den Bereichen Lesen und Schreiben sowie Rechnen bewilligt. Im Jahr zuvor waren es lediglich 341 Bewilligungen. Die Folge: Die Ausgaben kletterten innerhalb eines Jahres von 551.000 auf 746.000 Euro. Für die Jahre 2013 und 2014 hat der Senat nur noch jeweils 563.000 Euro zur Verfügung gestellt„Die Zahl der Anträge ist explodiert“, sagt Schulbehördensprecher Peter Albrecht. „Da sich die betroffenen Kinder aber wohl nicht plötzlich verändert haben, ist eher zu vermuten, dass die Ansprüche von Eltern und Schulen auf zusätzliche Unterstützung rapide gewachsen sind.“ Wo früher Bordmittel der Schulen eingesetzt wurden, würden heute Extramittel eingefordert. Albrecht: „Wir müssen dringend zu einem vernünftigen Maß zurückfinden.“

Die Schulbehörde hat die Kriterien für die AUL neu festgelegt. So sollen immer zwei Schüler zusammen unterrichtet werden. Wenn die Eltern weiterhin Einzelstunden für ihr Kind wollen, müssen sie zuzahlen. Die Dauer der Förderung ist nicht mehr automatisch auf mindestens ein Jahr angelegt wie früher. Gestrichen wurde ein festes Kontingent von AUL-Stunden für Schulen in sozialen Brennpunkten. „Das bedeutet, dass keine AUL-Therapeuten mehr direkt in den Schulen sind“, sagt Ute Lauth.

Das Netzwerk Hamburger AUL-Fachtherapeuten hat in einem Brief an Schulsenator Ties Rabe (SPD) gegen die Neukonzeption protestiert. „Durch die Veränderung der Rahmenbedingungen von Einzel- und Gruppenförderung sowie die willkürlich festgelegten Therapiezeiten wird es uns zukünftig nur bedingt möglich sein, eine effektive und erfolgreiche Therapie im Rahmen von AUL anzubieten“, schreiben die Lerntherapeuten. Eine Antwort des Senators steht noch aus.

Die Grünen-Schulpolitikerin Stefanie von Berg befürchtet eine Verschärfung der sozialen Spaltung. „So werden nur die Kinder eine Einzeltherapie erhalten, deren Eltern sich eine Zuzahlung von etwa 250 Euro monatlich leisten können“, sagte von Berg. In sozialen Brennpunkten lebenden Kindern werde eine Therapie nahezu unmöglich gemacht. Die Begrenzung der Ausgaben für AUL werde der Realität in der Stadt nicht gerecht. „Wir fordern den Senat auf, die Mittel an die Realität der Kinder anzupassen und die Kontingente für soziale Brennpunkte beizubehalten“, sagte von Berg. Die Grünen bringen zu den AUL in der kommenden Woche einen Antrag in die Bürgerschaft ein.