Ihre Tochter ist vermutlich zum Opfer des Erziehers geworden, der sich in einer Schnelsener Kita an elf Kindern vergangen haben soll.

Hamburg. Nach dem Missbrauchsverdacht an einer kirchlichen Kindertagesstätte in Schnelsen zieht der Fall weitere Kreise. Bereits 2011 soll es in einer kirchlichen Kindertagesstätte im Kreis Harburg Missbrauchsvorwürfe gegen den Erzieher gegeben haben, die Ermittlungen wurden aber eingestellt. Die Eltern von elf Kindern in Schnelsen haben gegen den 29 Jahre alten Erzieher Stefan H. Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs erstattet. Im Abendblatt spricht die Mutter einer betroffenen Achtjährigen, die die Kita besucht, von der ungeheuer belastenden Situation, in der sich die ganze Familie befindet. Sie hat Stefan H. angezeigt.

Freitag, 1. März

Andrea* M., 42, aus Schnelsen geht am Nachmittag mit ihrer achtjährigen Tochter Lilly* zum Briefkasten. Es ist der letzte Tag vor den Frühjahrsferien, auf die sich Lilly so gefreut hat. Darin liegt ein amtlich aussehender Brief. "Kita-Werk Niendorf" steht in der Absenderzeile. Andrea stutzt. Was wollen die denn? Sie reißt den Umschlag auf. "Dringender Tatverdacht", steht da. "Sexueller Missbrauch", "Kita Kriegerdankweg", "Erzieher Stefan H."

Andrea wird schlecht. Stefan? Der nette Stefan aus der Marienkäfer-Gruppe? Groß. Blond. Schlaksig. Öko. Nein. Der doch nicht. Alle Kinder mögen den. Unmöglich. Oder nicht?

Könnte auch Lilly ...? Diese Albträume während der letzten Monate. Ihre Angst, im Dunkeln einzuschlafen. Diese Aggressivität in letzter Zeit. Doch nicht nur eine Phase? Nein. Nein. Bitte nicht. Dann hätte sie doch was gesagt. Bestimmt. Lilly hat gelernt, laut Stopp und Nein zu sagen. So oft haben sie das geübt. So oft darüber gesprochen, was andere mit ihr tun dürfen und was nicht. Lilly hätte was gesagt. Da ist Andrea sich sicher. Oder nicht?

Andrea reißt sich zusammen. Lächelt ihre Tochter an. Beginnt sie unbewusst von oben bis unten zu sannen. Ist die Fröhlichkeit nur gespielt? Könnte man es ihr ansehen, wenn ...? Verheimlicht sie was? Ist sie vielleicht verletzt an Stellen, die man nicht sofort sieht? O Gott, mach, dass diese Bilder aus dem Kopf verschwinden! Nein. Lilly wirkt so aufgeweckt und vertrauensvoll wie immer. Andrea ist erleichtert.

Mittwoch, 6. März

Mehr als 200 Eltern sitzen am Abend in der Adventskirche in Schnelsen. Kita-Werk-Geschäftsführer Uwe Büth ist da, die Kita-Leiterin Renate Fleischer, eine Vertreterin des Vereins Zündfunke, der Pastor, einige Erzieherinnen. Man sei "zutiefst betroffen" und "entsetzt". Die Eltern tuscheln, rufen dazwischen. Nur ein Fall? Von wegen! Sie habe von vier Anzeigen gehört, sagt eine Mutter.

"Kein Wunder, dass keiner was mitbekommen haben will", sagt Andrea. Zwei Erzieher pro Gruppe? "Dass ich nicht lache. Einer ist doch immer krank, auf Fortbildung oder im Urlaub."

Donnerstag, 7. März

Andrea hat kaum geschlafen. Ist nervös. Sie hat mit anderen Eltern gesprochen und weiß, dass das Kind, durch das die mutmaßlichen Taten des Erziehers Stefan H. aktenkundig wurden, eines aus der Kita ihrer Tochter ist. Die Mutter hatte es dem beliebten Erzieher zum Babysitten anvertraut. Wie so oft, weil sie arbeiten musste. Er nahm es mit zu sich in seine Wohnung nach Norderstedt.

Sie kennt jetzt andere, deren Kinder betroffen sind. Jungen wie auch Mädchen. Manche erst drei, manche schon neun Jahre alt. "Der Täter hat vor gar nichts haltgemacht", sagt sie. Wie viele Kinder insgesamt betroffen sind, weiß sie nicht. In den Keller, wo die Waschmaschine steht, hat er die Kinder mitgenommen. Manchmal eins, manchmal mehrere. "Fridolin-Keller" nannte Stefan H. diesen Ort gegenüber den Kleineren. "Als wäre es zum Lachen, was da passiert", sagt Andrea. Für die Großen war es der "Hexen"- oder Piratenkeller". Von "Krabbelspielen" wird erzählt. Von Schlägen auf den Kopf und auf den Po. Und von Oralverkehr.

Schauergeschichten? Gerüchte? Wahrheit? Andrea weiß es nicht, kann nicht mehr unterscheiden. Wie soll man klar denken, wenn das Ungeheuerliche plötzlich Einzug in deine Kita hält? Soll sie ihre Tochter damit konfrontieren? In der Einladung zum Elternabend war gewarnt worden, die Kinder zu "löchern". Gegen 18 Uhr laufen die ersten Nachrichten. RTL zeigt ein gepixeltes Männerbild. "Aber das ist doch Stefan!", sagt Lilly sofort. Nun hat Andrea keine Wahl mehr. Sie muss mit ihrer Tochter sprechen. Aber nicht vor dem Zubettgehen. Und den Albträumen.

Freitag, 8. März

"Mensch, sag mal, ihr habt doch sonen Keller im Hort?" "Mmh." "Hat der einen Namen?" "Hexenkeller. Manchmal auch Piratenkeller." "Warst du da auch mal?" "Klar." "Allein?" "Nö, mit Stefan."

O Gott.

"Was habt ihr da gemacht?" "Och. Gespielt." "Was denn?" "Krabbelspiele." "Und wie geht das? Zeig doch mal!" Lilly kichert verlegen, nimmt ihre Mutter bei der Hand und hockt sich vor die Waschmaschine. Ihre Mutter soll sich dicht hinter sie hocken und mit den Händen und Fingern die Arme und Beine, Rücken und Bauch hoch- und runterkrabbeln. "Hat er dich auch woanders angefasst? Auf der Haut oder in der Hose?" "Nö." "Hast du ihn angefasst?" "Mama! Natürlich nicht!"

Andrea sitzt auf ihrer Couch. Wie betäubt. Weint. Was soll sie nur tun? War das nun alles? War da noch mehr? Wieso tut der das? Wieso fasst der mein Kind an? Niemand fasst mein Kind an! Niemand!

Montag, 11. März

Zweite Woche Frühjahrsferien. Andrea muss arbeiten, Lilly in den Hort. Die Überwindung, ihr Kind dort wieder hinzubringen, verursacht ihr körperliche Schmerzen. Natürlich hat sie überlegt, Lilly sofort dort abzumelden. Vieles spricht dafür. Vieles dagegen. Punkt 1: Der Täter ist weg. Punkt 2: Lilly geht immer noch gern dorthin. Punkt 3: Alle ihre Freunde sind dort. Punkt 4. Sie ist auf den Hort angewiesen. Punkt 5: Wo soll sie so schnell einen anderen Platz bekommen? Punkt 6: Es ist doch nur noch bis zum Sommer. Danach gibt es die Betreuung in der Schule. Andrea beschließt in Absprache mit ihrer Familie, ihr Kind dort zu lassen. Als sie es hinbringt, spricht sie mit keinem. Rein. Tschüs. Raus.

Freitag, 15. März

Andrea ruft das Landeskriminalamt (LKA) an. Tagelang hat sie sich mit der Frage gequält, ob sie ihrem Kind das antun soll: eine Befragung in einem Verhörraum, gefilmt, ohne ihr Beisein. Auch weiß sie nicht genau, ob das, was Stefan H. mit ihrem Kind gemacht hat, überhaupt ausreicht für einen Straftatbestand. Wie schlimm ist das im Vergleich zu anderen Dingen, die Kindern zustoßen? Wie traumatisierend? Ist das vielleicht nur eine Bagatelle? Wäre Lilly mit einem "Einfach-fallen-Lassen" mehr gedient als mit einer professionellen Befragung? Wühlt sie das nur noch mehr auf? Andrea weiß es nicht. Also schaut sie auf ihr Kind. Das Einzige, was sie weiß, ist: "Lilly ist eine stabile Persönlichkeit. Eine Befragung - das schafft sie." Lilly will nicht zur Polizei. Andrea sagt, dass das wichtig ist. Damit Stefan das nie wieder mit anderen Kindern machen kann. Lilly nickt.

Mittwoch, 3. April

Lilly ist schneeweiß. Ihre Lippen zittern. Ihre Hände auch. Sie umklammert drei ihrer Lieblingsstofftiere. Sie und ihre Mutter fahren jetzt los zum LKA. Die Polizistin ist sehr nett. Lilly darf in einem Spielraum malen. Dann geht's weiter in einen Verhörraum. Mama geht raus. Aber das ist okay. Die Kuscheltiere bleiben ja dabei. Hinterher wird sie sagen: "War gar nicht schlimm bei der Polizei."

Nach der Befragung bittet die Polizistin Andrea zum Gespräch. Die Krabbelspiele kann sie bestätigen. Außerdem kommt heraus, dass der Täter dabei das Licht ausgemacht hat. Zwei andere kleinere Mädchen sollen auch betroffen sein. Oralverkehr? "Wohl nicht", sagt die Polizistin. Schläge? "Können wir nicht genau sagen." Wird sie denn nie erfahren, was genau in dem Keller passiert ist? Mit zitternden Fingern unterschreibt Andrea den Strafantrag. Es ist der elfte im Fall Stefan H.

Freitag, 5. April

Andrea ist wütend. So unfassbar wütend. Sie weiß nicht, wohin mit diesem Zorn. Auf den Täter. Auf die anderen Erzieher, die niemals nachsehen gingen, wenn Stefan H. minutenlang mit den Kindern im Keller verschwand. Da kommt ein Pädophiler mit missbrauchten Kindern die Treppe rauf und keinem fällt was auf? Wie kann das sein?

Andrea hat gehört, dass Stefan H. sich bei seinen Eltern versteckt hat. Die Adresse ist bekannt. "Er hat sie ja schön in die Freundschaftsbücher der Kinder geschrieben", sagt Andrea bitter. Wütend ist sie vor allem deswegen, weil er frei herumläuft, während ihre Tochter nicht einmal unbehelligt nach der Schule in den Hort gehen kann. Kamerateams stehen da.

"Unsere Kinder müssen Spießruten laufen, während der auf Spielplätzen weitere Kinder belästigen kann", sagt sie.

Montag, 8. April

Letzte Nacht ist Lilly wieder aufgewacht. Schreiend. Albtraumgeplagt. Erst in Mamas Bett konnte sie wieder einschlafen. Andrea ist nach wie vor sicher, dass Lilly ihr nicht alles erzählt hat. "Ist das nicht schrecklich? Jemand tut meiner Tochter etwas an, und ich fange an, ihr zu misstrauen." Andrea wird den Weißen Ring anrufen. Um zu fragen, wie sie weiter vorgehen kann. Ob der Besuch eines Kinderpsychologen hilfreich ist. Eine Anwältin hat sie schon. Für die Nebenklage.

Wenn Andrea nicht wütend ist, ist sie dankbar. Für Lilly. Ihre kleine kluge Lilly. Unversehrt. Zumindest körperlich. "Andere Kinder haben die Begegnung mit einem Kinderschänder mit dem Leben bezahlt. Meine Tochter lebt."

(*alle Namen geändert)