Die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt dramatisch zu. Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks will Arbeitnehmer schützen.

Hamburg. Immer mehr Menschen erkranken aufgrund des psychischen Drucks, dem sie in der modernen Arbeitswelt ausgesetzt sind. Großraumbüros, pausenloses Multitasking und eine dauernde Erreichbarkeit durch moderne Digitaltechnik haben dazu geführt, dass psychische Erkrankungen mittlerweile die Hauptursache für Krankschreibungen sind. Der SPD-Senat will die deutschen Firmen nun zum Gegensteuern zwingen - mit einer Antistress-Verordnung.

Offiziell heißt das 25-seitige Papier, das dem "Abendblatt" vorliegt "Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastungen bei der Arbeit". Noch im Frühjahr soll die Vorlage vom Senat beschlossen und dann in den SPD-dominierten Bundesrat gegeben werden. Schließt sich der Bundestag an, könnte der Hamburger Vorstoß die moderne deutsche Arbeitswelt radikal verändern. Großraumbüros könnten in der jetzigen Form bald der Vergangenheit angehören. Auch flächendeckende Regelungen über die abendliche Abschaltung von Smartphones und Mail-Accounts könnten die Folge sein.

Die jüngsten Erhebungen zeigen, dass die Dauerkommunikation zur Gefahr wird. Nach einer DAK-Studie stehen psychische Erkrankungen erstmals auf Platz eins bei den Gründen für Krankschreibungen. Nach neuesten Befragungen klagen 58 Prozent der Beschäftigten über Mehrfachbelastungen durch Multitasking, und 44 Prozent sehen ihre Gesundheit durch häufige Störungen bei der Arbeit gefährdet. 88 Prozent aller Beschäftigten waren nach einer Bitkom-Studie im Jahr 2011 auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar. Schon vor Beginn und nach Ende des offiziellen Arbeitstages kommunizierten sie mit Chefs, Kollegen oder Geschäftspartnern. Die Folge: Der Feierabend ist bei immer mehr Arbeitnehmern faktisch abgeschafft.

"Aus meiner Sicht müssen Betriebe mehr tun, um psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz möglichst erst gar nicht entstehen zu lassen", sagte Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) dem Abendblatt. Mittlerweile gebe es für fast alles Verordnungen: für gesundes Sitzen, die Einstellung von Computerbildschirmen, das richtige Heben. Nur für den Schutz vor psychischen Belastungen nicht.

Setzt sich die Gesundheitssenatorin durch, könnte dies gravierende Folgen für den Alltag von Millionen deutschen Büroarbeitern haben. So heißt es in Paragraf 6 des Verordnungsentwurfs, dass "Störungen und Unterbrechungen der Arbeit sowie die gleichzeitige Verrichtung mehrerer Arbeiten auf ein Mindestmaß" zu reduzieren seien. Und: "Die Arbeitsumgebung hat der Arbeitgeber so zu gestalten, dass psychische Belastung vermieden oder so weit wie möglich verringert wird."

Auch in der Behörde weiß man, dass dies das Aus für manches Großraumbüro bedeuten könnte, das nicht nach Maßgaben des Gesundheitsschutzes konzipiert ist - etwa durch Lärmschutzkonzepte. Firmen müssten dafür sorgen, dass es nicht ständig Störungen im Arbeitsablauf gebe, sagt Prüfer-Storcks. Denkbar sei auch, dass zur Sicherung der Freizeit "das Smartphone nach einer bestimmten Uhrzeit ausgeschaltet wird". In dem Entwurf der Verordnung heißt es dazu außerdem: "Bei flexibler Arbeitszeit und räumlicher Mobilität sind Arbeit und arbeitsfreie Zeit abzugrenzen." Es sei "zu gewährleisten, dass Rufbereitschaft und Erreichbarkeit begrenzt werden und ein angemessener Freizeitausgleich erfolgt", so Paragraf 7.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund unterstützt die Initiative. "Psychische Gesundheitsgefährdung ist ein zu ernstes Thema, um es lediglich durch eine Selbstverpflichtung der Betriebe zu regeln", sagt DGB-Gesundheitsreferentin Petra Heese. "Im Bundesschnitt führen lediglich 20 Prozent der Betriebe die gesetzlich vorgeschriebene Gefährdungsanalyse unter Berücksichtigung psychischer Belastungen durch." Es sei Zeit, dass die Gesellschaft den Umgang mit den neuen digitalen Möglichkeiten vernünftig regle, so Heese.

Auch die Handelskammer hat den Ernst der Lage erkannt. "Die menschliche Verarbeitungskapazität ist an ihre Grenzen gekommen", sagt ihr Chefvolkswirt Dirck Süß. Die Unternehmen müssten dieser Tatsache noch deutlich mehr Rechnung tragen. In ihrer Stellungnahme bezeichnete die Kammer das Ziel des Senats, die psychische Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen, denn auch als "richtig und unterstützenswert". Den Verordnungsentwurf lehnt sie allerdings ab. Er enthalte zu abstrakte Vorgaben und "gehe an der Realität in vielen Unternehmen vorbei". Stattdessen rät die Kammer dem Senat, "Gespräche mit der Wirtschaft aufzunehmen".

Gesprächen wird sich der Senat kaum verschließen. Schon jetzt lobt Gesundheitssenatorin Prüfer-Storcks, dass viele Unternehmen erkannt hätten, dass Stress zu wachsenden Problemen führe. Mit der Neuen Verordnung will die SPD dafür sorgen, dass möglichst alle Unternehmen aktiv werden. "Wir wollen, dass die Betriebe die Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen systematisch prüfen", so Prüfer-Storcks.