60-mal pro Tag die Hände waschen - ein krankhafter Drang zu bestimmten Handlungen kann den Alltag vieler Menschen massiv stören.

Sie sind drei Minuten zu spät", sagt Tilmann Spohr*. Seine Oberschenkel wippen, mit der rechten Hand knetet er einen blauen Gummiball. Wir sitzen in einem Besprechungsraum der Schön Klinik Eilbek, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie. "Pünktlichkeit ist wichtig im Leben", sagt Spohr. "Ohne geht es nicht. Und ich war pünktlich - im Gegensatz zu ihnen." Der 35-Jährige hat recht. Also entschuldigen wir uns. Doch seine Oberschenkel wippen weiter.

Alles, was auch nur geringfügig von seinem Tagesplan abweicht, macht ihn unruhig. Er fühlt sich fast immer angespannt. Zwangshandlungen helfen ihm, diese Spannungen abzubauen. Jeden Abend kontrolliert Spohr seinen Wecker, schaltet das Gerät bis zu 30-mal an und aus, überprüft die korrekte Weckzeit: 6.55 Uhr. Er steht immer um diese Zeit auf, keine Minute später. Tagsüber wäscht er sich bis zu 60-mal die Hände, aus Angst, er könnte sich mit gefährlichen Keimen infizieren. Zu Hause sieht er 20-mal nach, ob alle Fenster verschlossen sind, bevor er seine Wohnung verlässt. Auch seine Arbeitstage plant er minutiös. Wenn sein Chef ihn dann mit anderen Aufgaben betreut als geplant, hält Spohr das kaum aus.

Ein bisschen zwanghaft sind viele Menschen - sei es, dass sie an manchen Tagen überprüfen, ob der Herd wirklich aus ist oder ob sie die Fernbedienung für ihren Fernseher immer exakt an dieselbe Stelle legen. Doch bei manchen wird der Zwang zu einem ernsten Problem - wie bei Tilmann Spohr. Wo aber verläuft die Grenze zwischen harmlosen Marotten und krankhaften Störungen, ab welchem Punkt ist eine Behandlung nötig? Um das zu beurteilen, richten sich Ärzte und Therapeuten nach der zehnten Ausgabe der ICD (International Classification of Diseases) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Demnach wird es dann problematisch, "wenn zwanghafte Handlungen oder Gedanken mindestens zwei Wochen anhalten, den Patienten quälen und seinen Alltag durcheinanderbringen", sagt Dr. Alexander Spauschus, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der Schön Klinik Hamburg Eilbek. "Wer etwa ständig zu spät zur Arbeit kommt, weil er immer seine Wohnung kontrollieren muss, sollte vielleicht über eine Therapie nachdenken."

Spauschus zufolge gehen Zwangssymptome häufig einher mit Depressionen und Abhängigkeitserkrankungen, unter anderem, weil einige Betroffene Beruhigungsmittel oder Drogen nehmen, um ihre Probleme zu ertragen. Im Unterschied zu schizophrenen Menschen erkennen Zwangspatienten allerdings, dass es ihre eigenen Gedanken sind, die sie zu bestimmten Handlungen treiben - und nicht etwa fremde Stimmen von außen.

Die Ursachen von Zwangsstörungen sind noch nicht eindeutig geklärt. Untersuchungen von Familien und Zwillingen deuten aber darauf hin, dass die genetische Veranlagung wohl eine bedeutende Rolle spielt. Wer etwa mit einem zwanghaften Menschen verwandt sei, habe Studien zufolge ein sechsfach erhöhtes Risiko, irgendwann selbst einmal von einer Zwangsstörung betroffen zu sein, sagt Alexander Spauschus. Andere Studien deuteten darauf hin, dass bei Menschen mit Zwangsstörungen der Haushalt des Botenstoffs Serotonin im Gehirn gestört sei. Auch Erkrankungen der Basalganglien (Hirnstrukturen, die für die Motorik wichtig sind) können Zwangsstörungen wohl begünstigen.

Zu unterscheiden ist zwischen Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Bevor es zu Zwangshandlungen kommt, taucht zunächst ein isolierter Gedanke auf (ich habe Keime an den Händen, ich muss mich waschen). Dieser sorgt zwar für Unruhe oder schon für Angst, aber die meisten Betroffenen versuchen zunächst, dem Gedanken nicht Folge zu leisten. Geben sie jedoch nach, setzt ein Lerneffekt ein, der den Zwang negativ verstärkt. Der Betroffene glaubt dann, dass durch das Waschen der Hände seine Angst nachlässt. "Beim nächsten Mal ist es dann wahrscheinlicher, dass der Betroffene sich bei einem Gefühl von Angst wieder die Hände wäscht, als wenn er diese Erfahrung nicht gemacht hätte", erläutert Alexander Spauschus. So verselbstständige sich die Störung.

Zwangsgedanken wiederum zeichnen sich dadurch aus, dass der Betroffene zum Beispiel regelmäßig daran denkt, anderen Menschen Gewalt anzutun - ohne dass er diese Gedanken unbedingt in die Tat umsetzt.

Um Zwangshandlungen zu behandeln, setzen Psychotherapeuten meist auf eine kognitive Verhaltenstherapie. Das heißt, sie konfrontieren den Patienten in kleinen Schritten mit den Auslösern seiner Zwangshandlung. Wer einen Waschzwang hat, erhält zum Beispiel die Vorgabe, sich nach dem Toilettengang für zwei Stunden nicht zu waschen. Ein Patient mit Kontrollzwang darf seinen Herd vielleicht zunächst nur noch einmal statt wie bisher zehnmal kontrollieren und dann gar nicht mehr. Das auszuhalten, sei zwar schwer, sagt Alexander Spauschus, aber: "Der Patient erkennt im Laufe der Behandlung, dass sich seine Unruhe und seine Ängste auch dann bessern, wenn er die Zwangshandlung nicht durchführt, und dass auch nichts Schlimmes passiert. Er wird nicht an Bakterien sterben, und das Haus wird nicht in Flammen stehen." Durch diese Erfahrung gewinne der Patient mit der Zeit die Kontrolle über sein Verhalten zurück.

Zwangsgedanken lassen sich mit dieser Methode nicht so leicht therapieren, da die Konfrontation nur darin bestehen kann, dass der Patient sich die Konsequenz seiner Gedanken - zum Beispiel ein schlimmes Ereignis - genau ausmalt. Der Therapeut unterstützt den Betroffenen dabei, den Gedanken weniger Bedeutung beizumessen, wodurch sie mit der Zeit an Kraft verlieren sollen. Bei der Behandlung von Zwangsstörungen können auch Medikamente nötig sein. Da der Serotonin-Haushalt im Gehirn eine wichtige Rolle bei Zwangsstörungen spielen kann, hilft es vielen Betroffenen, wenn sie zeitweise selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) einnehmen.

Tilmann Spohr steht mit seiner Therapie in der Schön Klinik Hamburg Eilbek noch am Anfang, auch deshalb, weil er zusätzlich an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet. Es fällt ihm noch schwer, sich an den Gruppengesprächen mit anderen Patienten zu beteiligen; die Anspannung beeinträchtigt seine Konzentration. "Mir ist noch nicht klar, wie ich mich von meinen Problemen befreien kann", sagt er. "Ich habe Angst vor dem Weg, der noch vor mir liegt." Aber er wolle durchhalten.

Einmal pro Woche schafft er es, abzuschalten, dann nämlich, wenn die Patienten auf der Station Blechkuchen backen. Für kurze Zeit fühlt Spohr sich entspannt - für ihn eine ganz wichtige Erfahrung. Sein größter Wunsch ist, dass künftig auch in seinem Alltag mehr Gelassenheit einkehrt.

* Name von der Redaktion geändert