Hamburger Urteil zur Drei-Prozent-Hürde birgt Chancen für ein Mehr an Demokratie

Weil die sieben Hamburger Bezirksversammlungen kaum etwas eigenständig und originär entscheiden können, schadet es auch nichts, wenn ihnen Splitterparteien, Wählerinitiativen und Einzelbewerber angehören. Die Drei-Prozent-Hürde, erst 2009 eingeführt, kann also abgeschafft werden. Das ist, zugegeben, sehr kurz gefasst der Tenor des Urteils des Hamburgischen Verfassungsgerichts.

Niemand unterstellt dem höchsten Gericht eine Entscheidung nach Gutdünken. Aber zweierlei ist bemerkenswert an diesem Urteil, das - außerhalb eines kleinen Kreises von Experten - durchaus als überraschend gelten muss: Erstens hat dasselbe Gericht vor nur zehn Jahren sogar die Fünf-Prozent-Klausel bei den Wahlen zu den Bezirksversammlungen für verfassungsgemäß erklärt. Insofern ist der neue Richterspruch eine Kehrtwende um 180 Grad.

Zweitens unterscheiden die Richter sehr deutlich zwischen den Ebenen: Die Abschaffung der Drei-Prozent-Klausel in den Bezirken soll keinesfalls der erste Schritt zum Aus für die Fünf-Prozent-Hürde bei Bürgerschaftswahlen sein. Die Richter haben das so deutlich betont, dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, ihnen sei selbst etwas unwohl bei ihrer Entscheidung gewesen.

Wer Sperrklauseln abschafft, will zweierlei zulassen oder hält die Nebenwirkungen mindestens für vertretbar: Radikale oder extremistische Splittergruppen wie die NPD, solange es sie noch gibt, können den Sprung in die Vertretung leichter schaffen. Und: Wo kleine Gruppierungen und Wählerinitiativen mitmischen, geht der Einfluss der etablierten Parteien zurück. Wechselnde Mehrheiten jenseits parteipolitischer Konditionierung können durchaus die Folge sein. Das kann die Demokratie beleben. Die Grenze ist dort erreicht, wo eine Bezirksversammlung einander zuwiderlaufende Entscheidungen trifft. Das führt zur Blockade der Verwaltung.

Letztlich folgen die Hamburger Verfassungsrichter dem langjährigen Trend höchstrichterlicher Rechtsprechung. Bei der Wahl zu den Gemeinde- und Stadträten gibt es in der Regel keine Sperrklauseln. Die kommunale Ebene funktioniert augenscheinlich auch so, wenngleich die Koordinierung der unterschiedlichen Interessen vielleicht schwieriger geworden ist. Das Bundesverfassungsgericht hat sogar für die Europawahlen die Sperrklausel von fünf Prozent aufgehoben.

In Deutschland galt die Einführung der Fünf-Prozent-Hürde als "Lehre aus Weimar", wo viele Parteien zur Unregierbarkeit führten, und war eherner Bestandteil der jungen Demokratie. Nach beinahe sieben Jahrzehnten Erfahrung mit dem demokratischen Willensbildungsprozess geht es nun auch darum, vor negativen Entwicklungen nicht die Augen zu verschließen. Die Wahlbeteiligung sinkt kontinuierlich, und viele Menschen haben sich scheinbar dauerhaft von der Teilnahme an Wahlen verabschiedet. Es liegt also im Interesse einer lebendigen Demokratie, neue Formen der Partizipation auszuprobieren, um wieder mehr Menschen anzusprechen. In diesen Bereich fällt die stürmische Entwicklung der direkten Demokratie - also von Volksentscheiden und Plebisziten.

Unter dem Gesichtspunkt, dass Demokratie ein Feld begrenzten Experimentierens sein muss, ja dass sie sich in gewissem Rahmen erneuern muss, ist dem Verfassungsgericht zuzustimmen. Leisten wir uns dieses Mehr an Demokratie! Das setzt ein vernünftiges Handeln aller Beteiligten voraus - zum Wohle des Ganzen. Wo dies nicht gewährleistet ist, muss im Interesse der Funktionsfähigkeit der Stadtverwaltung eingegriffen werden. Das Gericht hat den Weg vorgezeichnet: Senat und Fachbehörden übernehmen die Steuerung, letztlich kommt sogar die Wiedereinführung einer Sperrklausel in Betracht.