Fast 125 Jahre lang existierte der Hamburger Freihafen. Einst garantierte er der Stadt ihren Wohlstand, bald ist er Geschichte.

Erstaunt beobachteten Hamburg-Besucher die Zollbeamten, die an der Brooksbrücke ihr Büro verließen, auf die Straße traten und ganz selbstverständlich einen Lastwagen stoppten. Sie ließen sich vom Fahrer die Papiere zeigen und kontrollierten die Ladung so gründlich, wie man das damals nur von Landesgrenzen kannte. Und manchmal gerieten sogar arglose Touristen, die die Speicherstadt zu Fuß erkundet hatten und nun zurück in die Altstadt wollten, auf der Kornhausbrücke oder der Niederbaumbrücke in eine stichprobenartige Zollkontrolle. Sie mussten Taschen oder Rucksäcke öffnen, wurden nach Zigaretten und Alkohol gefragt und hatten das aufregende Gefühl eines Grenzübertritts.

Tatsächlich vermittelten die Übergänge von der Speicherstadt zur Altstadt noch vor ein paar Jahren die Atmosphäre einer Grenze. Und um eine solche handelte es sich zollrechtlich auch: Ausland im Inland, das war für Touristen eine erstaunliche Erfahrung, für Hamburger dagegen Normalität, denn der Freihafen gehörte so selbstverständlich zur Hansestadt wie der Michel oder das Rathaus.

Vom 1. Januar an ist das endgültig vorbei, dann tritt das vom Bundestag verabschiedete "Gesetz zur Aufhebung des Freihafens Hamburg" in Kraft und die letzten innerstädtischen Zollschranken fallen. Die Zollbeamten, die ihren Dienst an der Grenze zwischen Speicherstadt und Altstadt versahen, hatten schon vor zehn Jahren ihre Kontrollstellen verlassen. Seit 2003 ist der historische Lagerhauskomplex bereits nicht mehr Teil des erst jetzt komplett abgeschafften Freihafens.

Der 1. Januar 2013 ist nicht nur ein schlichtes Datum, sondern markiert nach 124 Jahren das Ende einer ganzen Ära, die für Hamburgs wirtschaftliche Entwicklung enorme Bedeutung besaß. Hamburg ohne Freihafen? Noch vor einer Generation konnte sich das kaum jemand vorstellen. Dabei hatten sich die Veränderungen schon lange angekündigt. Sie sind einerseits der Containerisierung im Transportwesen geschuldet, die den klassischen Warenumschlag und die Lagerung in Speichern und Schuppen weitgehend überflüssig machten. Als folgenreich erwies sich auch der europäische Integrationsprozess: So führte die schrittweise Einführung des Europäischen Zollkodexes 1992 dazu, dass der Freihafen in eine Freizone umgewandelt wurde. Und 1994 wurde der Übergang vom deutschen ins europäische Zollrecht endgültig vollzogen. Noch blieb der Freihafen zwar bestehen, doch verlor er nun seinen Zollauslandsstatus und wurde als Freizone Teil des Zollgebiets der EU.

So viel Umbruch und so viel Preisgabe von althergebrachten Souveränitätsrechten können sich die stolzen Hamburger Ratsherren in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts nicht im Traum vorstellen. Frankreich ist besiegt, und am 18. Januar 1871 lässt sich der preußische König als Wilhelm I. im Spiegelsaal des Versailler Schloss zum Deutschen Kaiser krönen. Als am 17. Juni die beiden Bataillone des siegreichen Infanterieregiments Nr. 76 heimkehren, kennt der patriotische Jubel kaum Grenzen. Tausende Menschen begrüßen auf dem festlich geschmückten Rathausmarkt die Soldaten, die - wie Bürgermeister Gustav Heinrich Kirchenpauer mit zeittypischem Pathos formuliert - "an dem ruhmvoll beendeten Feldzug ehrenvoll Anteil genommen und die altbewährte Tapferkeit der Hanseaten neu bewährt" hatten.

Was der Bürgermeister verschweigt, ist die Tatsache, dass die hamburgischen Truppen nun Soldaten des Kaisers sind. Doch das entspricht längst der Realität des stolzen Stadtstaates, der den größten Teil seiner Autonomie schon 1867 aufgegeben hatte, als er Mitglied des Norddeutschen Bundes wurde. Nun ist Hamburg Teil des Deutschen Reichs, wenn es auch für die Fragen von Zoll und Handel zunächst noch Übergangsfristen gibt.

Wie wird sich deren absehbarer Wegfall auf den Hafen auswirken? Werden die Warenströme, die Hamburg reich gemacht haben, versiegen, wenn künftig sofort alles verzollt werden muss? Das Problem ist schwierig, denn für das Reich gehören Zölle zu den Haupteinnahmequellen. Und schon ab 1879 macht die Schutzzollpolitik des Reichs die vollständige Eingliederung Hamburgs in das Deutsche Zollgebiet immer dringlicher. Die Verhandlungen sind zäh, denn die Vertreter des Reichs wollen die Hamburger Sonderrechte möglichst bald abschaffen. Ihre hanseatischen Gesprächspartner dagegen verteidigen verbissen das Privileg, Importgüter zollfrei über die Elbe einzuführen und im Stadtgebiet zu lagern. Natürlich geht es ums Geld, aber es geht auch um die Wirtschaftskraft der zweitgrößten Stadt im Reich. Und das kann auch den Berliner Regierungsvertretern nicht gleichgültig sein. Sie wissen genau, dass das Deutsche Reich Hamburg auch künftig als starke Hafenstadt braucht.

So einigt man sich am 26. Mai 1881 auf den sogenannten Zollanschlussvertrag. Dieser sieht den folgenden Kompromiss vor: Als Ausgleich für die Eingliederung in das deutsche Zollgebiet erhält Hamburg einen Freihafen, der als Zollausland gilt. Im Vertrag heißt es: "Innerhalb dieses, lediglich von außen zollamtlich zu bewachenden Freihandelsbezirks ist die Bewegung von Schiffen und Waren von jeder Zollkontrolle befreit." Das klingt gut, hat aber einen Haken, denn diesen Freihandelsbezirk gibt es noch nicht. Innerhalb weniger Jahre muss nun auch ein neuer Lagerhauskomplex gebaut werden. Doch wo soll er liegen? Die Stadt entscheidet sich für ein Areal, das - direkt südlich der Altstadt gelegen - die besten Voraussetzungen zu bieten scheint. Leider handelt es sich aber nicht um eine unbebaute Fläche, hier erstrecken sich vielmehr intakte Wohnviertel, in denen viele Menschen zu Hause sind. Am Wandrahm leben reiche Kaufleute in prächtigen Barockhäusern, und am Kehrwieder stehen die Fachwerkhöfe, in denen Hafenarbeiter mit ihren Familien wohnen. Insgesamt müssen fast 1900 Häuser geräumt und abgerissen, mehr als 18.000 Menschen umgesiedelt werden. Für die Kaufleute ist das kein großes Problem, sie bauen sich stilvolle Villen an der Alster oder in den elbabwärts gelegenen Vororten. Gentrifizierung würde man diese Entwicklung heute nennen. Deutlich härter trifft es die Hafenarbeiter, die nun ihre billigen, nahe ihren Arbeitsplätzen gelegenen Häuser gegen teurere und außerdem noch weiter entfernt liegende Wohnungen oder menschenunwürdige Behausungen in den Gängevierteln eintauschen müssen.

Am 15. Oktober 1888 wird Hamburg Teil des deutschen Zollgebiets. Zwei Wochen später reist Kaiser Wilhelm II. mit dem Hofzug nach Hamburg. Als er um 13.15 Uhr mit der Kutsche in der Speicherstadt eintrifft, haben sich die Honoratioren dort schon versammelt: Am westlichen Turm der Brooksbrücke soll der Monarch den Schlussstein in Form einer Gedenktafel einsetzen und den Freihafen damit symbolisch eröffnen. So reicht man dem Kaiser eine Maurerkelle, mit der er etwas unbeholfen Mörtel auf die Tafel gibt. Die professionelle Vermauerung überlässt er aber doch lieber Facharbeitern. Dann schlägt er mit einem prunkvollen Hammer dreimal symbolisch auf die Tafel. An diesem Tag wird ziemlich viel gehämmert, denn nach dem Kaiser vollziehen auch noch Reichskanzler Bismarck, General Moltke, der Erste Bürgermeister, die Vertreter des Bundesrates, der Reichstagspräsident, der Präsident der Bürgerschaft, der königlich-preußische Gesandte und noch einige andere Amtsträger das Ritual. Anschließend schmettert man die patriotische Hymne "Heil dir im Siegerkranz".

Nun ist die Speicherstadt zwar eröffnet, fertig ist sie aber noch lange nicht: Zwischen 1885 und 1913 entstehen in drei Ausbaustufen zahlreiche, komplett auf Kiefernpfählen gegründete Lagerhäuser. Bis heute wird das architektonische Erscheinungsbild der aus Backstein errichteten Speichergebäude von überwiegend neogotischen Formen geprägt. Oberbauingenieur Andreas Meyer, der für die Gestaltung der Brücken und Speicher verantwortlich ist, orientiert sich an der von Conrad Wilhelm Hase gegründeten hannoverschen Bauschule, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Backsteinarchitektur des Historismus stark beeinflusst hat. Gelagert werden hier vor allem teure Waren aus Übersee wie Kaffee, Tee, Nüsse und Gewürze, aber auch Teppiche aus dem Orient. Hauptnutzer sind die Quartiersleute, die die Speicher bewirtschaften. Zumeist schließen sich vier Personen in einer Quartiersfirma zusammen. Einer gibt seinen Namen, die anderen sind "Consorten".

Für Hamburg ist es ein Glücksfall, dass die Speicherstadt trotz erheblicher Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg als geschlossenes Ensemble die Umbrüche von mehr als 120 Jahren und nun auch das Ende des Freihafenbezirks überstanden hat. Längst hat sich der Lagerhauskomplex zu einer Touristenattraktion mit einem vielfältigen Kulturangebot und zahlreichen Museen entwickelt. Noch immer gibt es aber auch Speicher, in denen etwa Teppiche gelagert werden, und auch sonst scheint die Geschichte hier noch lebendig zu sein. Etwa im Speicherstadtmuseum am Sandtorkai 36, das der inzwischen abgeschlossenen Geschichte des Freihafens eine eigene Ausstellung gewidmet hat. Dort kann man auch die aus Silber und Elfenbein gefertigte Maurerkelle und den dazugehörigen Hammer bewundern, die kaum alltagstauglichen, aber äußerst prunkvollen Werkzeuge, mit denen der Kaiser am 29. Oktober 1888 die symbolische Einweihung vollzog.