Die Straße in Sasel ist naturnah wie kaum eine andere in Hamburg. Zu Besuch bei Familie Salig, im Reich von Eisvogel und Fischotter.

Auch das Paradies hat eine Mängelliste. Allerdings eine sehr kurze. Arne Salig überlegt jedenfalls eine ganze Weile, bis ihm doch noch einfällt, was sein Wohnglück im Grünen eventuell schmälern könnte: "Es ist schwierig, hier einen mediterranen Kräutergarten anzulegen", sagt er. "Wegen der Bäume ist es enorm schattig." Dazu das Laub im Herbst und der feuchte Boden des Alstertals. Aber sonst? "Tut mir leid. Mir fällt wirklich nichts ein."

Der Marketingkaufmann weiß natürlich, dass er für seine kleine Familie kaum ein besseres Heim hätte finden können. Als er vor zwei Jahren das Haus am Mellingburgredder in Sasel sah, wusste er: Das ist mein Sechser im Lotto! Auf der einen Seite: Laubwald. Auf der anderen: Laubwald mit Alstertal. Grüner wird's nicht in Hamburg. Wasser, Wald, Einzelhaus, Natur - allzu oft gibt es Immobilien in dieser Lage nicht. "Doch ich hatte Glück. Ich bin hier aufgewachsen, kannte mich aus und wollte mit meiner Frau Sandra und meinem Sohn Emil wieder zurück in die Stadt." Da habe er nicht lange gezögert, als das Inserat für den Mellingburgredder auf dem Markt war. Nun kriechen nebenan Ringelnattern durchs Dickicht, stürzen sich Eisvögel in den Fluss, tapsen Fischotter ans Ufer. Gleichzeitig stimmt die Infrastruktur mit Bushaltestelle, Kinderspielplatz, Grundschule und dem nur einen Kilometer entfernten Alstertaler Einkaufszentrum. "Wie gesagt: Ein Sechser im Lotto", sagt Salig.

Nun besteht in Hamburg wahrlich kein Mangel an wohnortnahem Erholungswert. 31 Naturschutzgebiete, 1400 Parkanlagen und 245 000 Straßenbäume belegen das Bild Hamburgs als eine der grünsten Städte Deutschlands. Aber wie sich der 650 Meter lange Mellingburgredder an der Alster entlangzieht, ist selbst für Hamburg außergewöhnlich naturnah. "In dieser Gegend herrscht tierisches Leben", sagt Michael Obladen von der Alstertaler Gruppe des Naturschutzbundes Hamburg. "Mitten in der Stadt bietet sich ein Lebensraum für Rehe, Füchse, Dachse und Wildschweine, Waldkäuze und Bachforellen. Nicht zu vergessen: die Blauflügel-Prachtlibelle!" Alle fünf Spechtarten, also Grün-, Schwarz-, Bunt-, Klein- und Mittelspecht, fänden rund um die nördlichste Saseler Straße ideale Bedingungen. Die Mellingburger Alsterschleife, eine Trockenfläche, die als Refugium äußerst seltener Pflanzen gilt, ist da noch gar nicht eingerechnet. Familie Salig kann aber behaupten, neben klangvollen Pflanzen wie dem Großen Klappertopf, dem Natternkopf oder dem Raubblattgewächs Ochsenzunge zu wohnen.

Hinter dem Haus der Familie fällt der Hang steil zum Fluss ab, an der Schleuse zetern die Blessrallen, aus dem Garten blickt man auf ein verschlungenes Geflecht aus Wanderpfaden. Sohn Emil, 4, hat dort seine "Zauberwege" entdeckt. "Manchmal sitzt er am Wasser und prüft, was passiert, wenn man einen Stein hineinwirft", sagt Arne Salig. Das sei natürlich keine große Sache, aber es sei ein Privileg, sein Kind in der Stadt so naturnah aufwachsen zu sehen. Und auch den 46-Jährigen lässt die Umgebung nicht kalt. Nach einer stressigen 60-Stunden-Woche gebe es kaum etwas erholsameres, als sich mit einem Buch ans wild umwucherte Alsterufer zu setzen. "Denn natürlich macht dieses Wohnumfeld etwas mit dir", sagt Salig. "Es prägt dich." Die Hemmschwelle für einen Waldspaziergang sei jedenfalls extrem niedrig. Man spüre die Jahreszeiten intensiv, sei bei Wind und Wetter draußen und brauche ordentliche Gummistiefel. Denn die Wege zum Alstertal sind kurz, aber tief. Elbnahe Straßen in Othmarschen oder Blankenese sind zwar mindestens genauso grün wie der Mellingburgredder. "Aber ein Hamburger bleibt wohl immer an seinem Fluss", sagt Salig. Einmal Alster, immer Alster. So war das bei ihm. Zudem zeichne sich die Wohngegend durch eine "gewisse Bodenständigkeit" aus, in der Straße werde nachbarschaftliche Hilfe gepflegt und die Frage "Was grillt ihr heute?" sei im Sommer nicht selten der Beginn einer längeren Kommunikationseinheit am Gartenzaun. Das alles unter einem imposanten Blätterdach, das die Straße wie ein Schirm überspannt.

Mancher Autofahrer verflucht dagegen jeden Sommer das städtische Blätterdach. Immerhin verklebt die Linde, mit 53 000 Exemplaren der häufigste Straßenbaum Hamburgs, in schöner Regelmäßigkeit Lack und Fensterscheiben. Dabei sollte sich der Groll gegen die bevorzugt auf Linden lebenden Blattläuse und deren Hinterlassenschaften, den Honigtau, richten. Sie sind die Autoscheibenverschmutzer. Und schadhaft, wie die Wollige Napfschildlaus, sind sie obendrein. Laut Umweltbehörde sind die Tiere nicht nur ein Feind der sauberen Autoscheibe, sie sind auch Feinde des Holzes.

Aber was wären Hamburgs Straßen ohne ihre 48 500 Eichen? Ohne die 30 000 Ahorne? Ohne die 10 000 Platanen? Ohne die 10 000 Birken? Ohne Buchen, Eschen, Kastanien? Und was wäre der grüne Vorzeigebezirk Wandsbek ohne seine 60 000 Bäume am Straßenrand? Eben. Ganz schön kahl. Und trostlos.

Um Lücken im Baumbestand zu schließen, wurde 2011, im Jahr der Umwelthauptstadt, die Kampagne "Mein Baum - meine Stadt" gestartet. Ein umfassendes Baummanagement habe die Verkehrssicherheit des Stadtgrüns in den vergangenen zehn Jahren deutlich verbessert. Zudem gibt Hamburg laut Wirtschaftsbehörde 2,8 Millionen Euro pro Jahr für das sogenannte Straßenbegleitgrün aus, also für Sträucher, Hecken und Blumen.

Das viele Grün in Sasel wirkte auf Arne Salig dermaßen inspirierend, dass er fast zwangsläufig ein Buch schreiben musste. "Bleib so frei" soll es heißen und ein Plädoyer für das Aufwachsen in der Natur sein. "Mein Sohn hat hier im Wald Fahrradfahren gelernt, ohne dass ich Angst haben musste. Er spielt im Matsch, schnuppert an jeder Blume, beobachtet Tiere. Das Leben hier ist unglaublich sinnlich." Die Wahrnehmung, gerade von Kindern, werde ganz anders beansprucht als zwischen Häuserschluchten. Rodeln im Winter, Radeln im Sommer - so nimmt Familie Salig das Stadtleben wahr.

Am Mellingburgredder kann man sich jedenfalls kaum vorstellen, dass bundesweit neun Großstädte, gemessen am Flächenanteil der Parks, grüner sein sollen als Hamburg.