Das Frühjahr war eines der trockensten in der Geschichte der Wetteraufzeichnung. Um die Statistik und die Vorurteile gegenüber dem Hamburger Wetter nicht allzu sehr aus dem Lot zu bringen, musste Petrus also an den Tagen nachbessern, an denen ich mit Klemmbrett und Kamera durch Lokstedt radelte. Es schiffte wie aus Kübeln. Das tat meinem Teint gut. Doch welche Auswirkung hatte das auf die Bewertung der Straßen zwischen Lenzsiedlung und Niendorfer Gehege? Die ersten Bilder waren so traurig, als begutachtete ich nordenglische Kleinstädte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Und wer vergibt schon drei Sterne, wenn die Pfützen tief sind, alle Häuser grau wirken, Anwohner, Passanten und Postbotinnen grimmig gucken? Selbst der Verkehr ist bei Regen lauter. Es rauscht, plätschert und zischt, sobald nur ein Smart durch eine Sackgasse rauscht.

Die Katalogisierung Hamburgs ist das, was die "Vermessung der Welt" für den Autoren Daniel Kehlmann war: ein Abenteuer. Dass meins so verregnet war, nehme ich dem Tiefdruckgebiet "Lulu" persönlich übel.

Die Fotos sagen wenig über die Straßen. Außer dass Bäume und Hecken Lokstedt geradezu überwuchern - eine grüne Hölle, dieser Stadtteil. Aber der Wohlfühl-Charakter wird an vielen Stellen zugeparkt. Manche Autos sind geradezu verdächtig. Besser kein Foto hier. Verdächtig bin ich selbst. Was sehen die Anwohner in mir? Einbrecher? Privatdetektiv? Ich fotografiere diskret, Notizen mache ich en bloc. Das ist sinnvoll, um Straßen miteinander zu vergleichen.

Bei 120, 130 Straßen verliert man aber schnell den Überblick. Wo war noch mal Schwübb? Ist Willinks Park zweigeteilt durch die Niendorfer Straße? Kein Schild klärt mich auf. Ich frage einen Mann, der gerade sein Kind in die Kita gebracht hat. "Das weiß ich doch nicht." Soll heißen: Na, der hat Probleme.

Straßen zählen ist ein wahrer Motivationsrausch, ahne ich nach wenigen Stunden. Dass in der Erlenstraße Fußball-Legende Jupp Posipal (Weltmeister 1954) gelebt hatte, wusste ich bereits. Gibt das einen Stern mehr für die Wohnqualität? Eher nicht. Aber hübsch hier.

Wo Google Maps noch immer die Hans-Heinrich-Sievert-Kampfbahn anzeigt, bin ich erschlagen von der Dichte der verklinkerten oder weiß verputzten Häuserburgen am Veilchenweg. Darf man Neubau-Getto schreiben? Ich diskutiere innerlich mit den kritischsten Lesebriefschreibern, die ich mir vorstellen kann.

Das Klemmbrett lässt sich kaum noch halten. Die Zettel sind durchnässt. Aufschreiben, aufsteigen, absteigen, aufschreiben, aufsteigen. Ich radele zum Siemersplatz. Kein Platz wie Place de la Irgendwas oder Piazza de Soundso. Eine der lautesten und schäbigsten Kreuzungen Hamburgs. Bei Feinkost Behrmann muss ich kurz durchschnaufen. Die Ruhe, die die dunklen Holzregale und Köstlichkeiten entfalten, überträgt sich auf die Kunden. Hier lässt sich genießen und philosophieren. Dichter, Sänger und Träumer haben immer wieder von den Wegen und Straßen erzählt, die sie noch Jahre verfolgten. Für einen dieser Berufe werde ich mich im nächsten Leben bewerben.