Zweiter Bericht nach Tod von Chantal listet eklatante Mängel bei den Sozialen Diensten auf. Senator nimmt Mitarbeiter in Schutz und verspricht Abhilfe.

Hamburg. Das Urteil über die potenzielle Pflegemutter war eindeutig: "katastrophal, unhygienisch und verwahrlost" sei ihre 2,5-Zimmer-Wohnung, es gebe "Hinweise auf zahlreiche Haustiere". So weit die Einschätzung einer vom Gericht bestellten Gutachterin. Drei Jahre später brachte das Jugendamt dennoch Pflegekinder bei der Frau unter - das alte Gutachten wurde nicht mehr berücksichtigt, ein neuer Hausbesuch fand auch nicht statt.

Der Fall - ohne Orts- und Zeitangabe - wird geschildert im zweiten Bericht der Innenrevision der Finanzbehörde, die den Tod der elf Jahre alten Chantal aufarbeiten soll. Sie war im Januar in Wilhelmsburg in ihrer Pflegefamilie an einer Methadonvergiftung gestorben. Ging es im ersten Teil des Berichts noch um haarsträubende Fehler im Jugendamt des Bezirks Mitte, listet der zweite Teil - er liegt dem Abendblatt vor - grundlegende Probleme der staatlichen Jugendhilfe auf. Im Visier: die 35 Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) der Bezirksämter.

Obwohl sie diversen Regeln unterlägen, gebe es eine Reihe von Mängeln, schreiben die Revisoren. Konkret wird moniert, dass in sieben von 20 untersuchten Fällen "Bearbeitungspausen" von bis zu 20 Monaten gab - und damit in dieser Zeit keinen Verantwortlichen. Dabei ist dies ausdrücklich vorgeschrieben, schließlich steckt hinter jedem "Fall" ein Kind in Not. Weitere Mängel: Die vorgeschriebene Abstimmung mit Kollegen fand nur in zehn von 20 Fällen statt, Hausbesuche nur in neun von 20 und Stichprobenkontrollen durch Vorgesetzte nur in drei von 50 Fällen - trotz erkannter Mängel gab es aber "keine Folgemaßnahmen".

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Besonders haarsträubend: In der Hälfte der Fälle wurden vor der Entscheidung für eine Pflegefamilie Unterlagen über deren Einkommens- und Wohnverhältnisse, über (Sucht-)Krankheiten und etwaige Führungszeugnisse gar nicht erst angefordert, geschweige denn eingereicht. Es sei "nicht ersichtlich", schreibt die Innenrevision, "aus welchen Gründen eine Pflegefamilie ausgewählt wurde." Auf ihre Rolle vorbereitet würden Pflegeeltern auch kaum, und wenn die Behörde ihnen einen Zuschuss gewähre, zum Beispiel für eine Kinderzimmerausstattung, werde kaum kontrolliert, wofür das Geld ausgegeben wird.

Hinzu kommt: In allen untersuchten Fällen haben die Behörden mit externen Trägern zusammengearbeitet, eine Kontrolle über deren Leistungen habe es aber in zwei Dritteln der Fälle nicht gegeben.

Dieser zweite Bericht der Revision deckt sich weitestgehend mit einer Studie der Universität Koblenz im Auftrag der Sozialbehörde (das Abendblatt berichtete). Aus Sicht von Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) gibt es an der Situation nichts zu beschönigen: "Wir müssen feststellen, dass es einzelne eklatante Fehlentscheidungen gab und die Strukturen im Allgemeinen Sozialen Dienst mangelhaft sind", sagte er im Gespräch mit dem Abendblatt. Dennoch sei die Mehrzahl der Sozialarbeiter engagiert, und ihm liege daran, die Debatte nicht auf ihrem Rücken auszutragen. "Die ASD-Mitarbeiter machen eine menschlich schwer belastende Arbeit mit hoher Verantwortung. Dabei stehen sie häufig vor schwierigen Entscheidungen, die für die Betroffenen dramatische Folgen haben können."

Als eine Hauptursache für die Überforderung der Sozialarbeiter hat Scheele die hohe Personalfluktuation ausgemacht. So waren 2011 beim ASD im Bezirk Bergedorf rund 70 Prozent der Mitarbeiter ausgeschieden, im Bezirk Eimsbüttel mehr als 35 Prozent, in Wandsbek 25 Prozent und in Mitte immerhin 20 Prozent. In Hamburg-Nord, Altona und Harburg lagen die Werte um die 15 Prozent. Das soll sich ändern. Gebessert hat sich bereits die absolute Personalausstattung: Waren 2006 - ein Jahr nach dem Tod der siebenjährigen Jessica in Jenfeld - 241 von 270 ASD-Stellen besetzt (Quote: 89 Prozent), sind es derzeit 328 von 342 Stellen. "Das sind 96 Prozent", so Scheele.

Aus Sicht der GAL-Familienpolitikerin Christiane Blömeke ist die Situation in den Jugendämtern dennoch "so desolat, dass sich ein Fall Chantal jederzeit wiederholen kann. Die SPD muss sich endlich ernsthaft mit der Personalausstattung und der Qualifizierung der Jugendamtsmitarbeiter auseinandersetzen." Mehr Aufsicht und Kontrolle allein reiche nicht.

Die Sozialbehörde verweist hingegen darauf, dass Chantal unter den Augen des Jugendamts gestorben sei. Das Problem sei nicht fehlendes Personal gewesen, sondern nicht eingehaltene Regeln. Daher setzt Scheeles Behörde auf ein mehrstufiges Verfahren. Der erste Schritt ("Sofortmaßnahmen") beinhaltete die Berichte der Innenrevision, die Überprüfung aller Pflegeverhältnisse sowie die neue "Fachanweisung Pflegekinderdienst". Sie schreibt unter anderem die Vorlage von Gesundheitszeugnissen samt Drogentest für Pflegeeltern vor. Im zweiten Schritt soll bis Ende des Jahres eine Jugendhilfeinspektion aufgebaut werden. Drittens soll bis 2014 ein Qualitätsmanagement eingeführt werden, das einheitliche Standards für die Fallbearbeitung und die Dokumentation vorschreibt.

Die Hoffnung ist, dass eine Ordnung der Zustände den ASD auch wieder attraktiver für Sozialarbeiter macht. Derzeit sei es so, dass in sozialen Brennpunkten fast nur Bewerbungen von Nicht-Hamburgern oder Berufsanfängern eingingen, schreibt die Innenrevision unter Verweis auf eine ASD-Leitung. Einige würden schnell wieder gehen. Grund: "Praxisschock".