Das Dockville-Festival lockt Tausende Besucher und Bands nach Wilhelmsburg. Ist das der Durchbruch für den Sprung über die Elbe?

Die Zufahrtstraße gleicht einer Mischung aus Bahnhof und Baustellenzufahrt. Im Minutentakt fahren Taxis vor, Gruppen junger Konzertbesucher steigen aus, bepackt mit Schlafsäcken und Bierkisten. Dazwischen rattern hier am Wilhelmsburger Elbarm Reiherstieg immer mal wieder Lkws zur Baustelle direkt nebenan, wo der Schiffsmaschinen-Hersteller MAN eine 80 Meter lange Kaianlage baut. Vom nahen Getreide-Terminal weht ein Geruch von Kartoffeln herüber. Die Soundchecks der Musiker mischen sich mit dem Dröhnen der Bagger. An diesem Freitag ist noch nicht entschieden, ob das Gelände eher Konzertplatz oder Industriegebiet ist. Doch das stört keinen Besucher. Mehr als 10 000 werden für drei Tage beim Dockville-Festival erwartet. In Wilhelmsburg.

"Wir wussten, dass das hier irgendwie weit draußen am Südrand der Stadt liegt", sagt Toyah Diebel, 19-jährige Studentin aus Nürnberg. Wilhelmsburg? Klar, sie haben schon davon gehört. "Sozial schwach, viele Probleme, Industrie. Und dann war da doch irgendwann einmal die Flut mit den vielen Toten, oder?"

Noch hat die Besucher aus Franken die Imagekampagne für die Elbinsel nicht erreicht. "Sprung über die Elbe" - dieser Leitspruch des Senats ist für sie ohne Inhalt. Ebenso Begriffe wie IBA , Internationale Bauausstellung, oder IGS, internationale Gartenschau, die hier bis zum Jahr 2013 den Sprung beflügeln sollen. "IBA? Ja, schon gehört, aber was genau soll das sein?"

Dabei ist die IBA der Motor, der Dockville so groß werden ließ. Das Festival ist eines von vielen Projekten, das in den vergangenen beiden Jahren mit Millionenaufwand von den IBA-Machern gepuscht wurde. Dockville ist hip, Wilhelmsburg soll auch hip werden. Das ist die Hoffnung. Mit MGMT aus New York haben die Dockviller tatsächlich eine der derzeit angesagtesten Pop-Bands auf die Industriebrache bekommen. Exklusiv in ganz Europa! "Die Coolness wird nach Wilhelmsburg gekarrt", sagen Musikkritiker.

Alles bestens also mit dem Sprung über die Elbe? Sind die Hamburger reif für die Insel? In den vergangen Tagen sind Zweifel aufgekommen. Zwar sind viele Bildungsprojekte angelaufen, Eltern-Initiativen schlossen sich zusammen. Kleinere Bauprojekte wie ein schwimmendes IBA-Büro haben begonnen. Doch der ganz große Wurf fehlt noch: 100 Millionen Euro will der Senat für Infrastruktur und die IBA investieren, 78 weitere Millionen für die parallel geplante Gartenschau. Das Drei- bis Fünffache davon sollen private Investoren hineinpumpen. Ein neues Hotel, experimentelle Wohnbauten mit ökologischem Stempel für rund 2000 Neubürger und Ausstellungshallen - für all diese Investitionen wird von IBA und IGS noch kräftig geworben. Doch große Geldgeber sind bis heute nicht in Sicht. "Viel ist da noch nicht passiert", kritisiert der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete und Stadtentwicklungsexperte Andy Grote. "Die Zeit bis 2013 wird knapp."

Auch in Wilhelmsburg sind mittlerweile Zweifel aufgekommen. Manuel Humburg, Allgemeinmediziner auf der Insel und seit den 80er-Jahren Wilhelmsburg-Aktivist, sieht die jüngsten Entwicklungen kritisch: "Die Sache mit den Investoren kann der IBA noch das Genick brechen", fürchtet er. Noch hakt es mit dem Sprung über die Elbe. Der Zeitplan für den Umzug zweier Behörden in Hamburgs Süden scheint zu wackeln. Die geplante Investition für ein neues großes Wilhelmsburger Freizeitbad hat der Senat zusammengestrichen. Und die ersehnte Herauslösung des Spreehafens, der "Alster von Wilhelmsburg und Veddel", aus dem Zollgebiet des Freihafens lässt auf sich warten. Und noch immer gibt es Pläne für eine neue Stadtautobahn, die zwar die Bundesstraße mitten im Stadtteil ersetzen soll, aber den Durchgangsverkehr im Viertel lässt. Von Industrie und Lärm ist die Insel noch lange nicht befreit - und wird es wohl auch nie ganz sein. Wilhelmsburgs Erscheinungsbild und sein Image mit ein paar flotten Sprüngen komplett umzudrehen funktioniert eben doch nicht so schnell.

Seit 1962 steckt die Elbinsel in einer "Abwärtsspirale", wie es Humburg nennt. Damals kamen bei der verheerenden Sturmflut Hunderte von Wilhelmsburgern um. Viele Familien verließen den Stadtteil, Gastarbeiter rückten nach. Der Hafen verdrängte Wohngebiete, die Sozialwohnungen in den Kirchdorfer Plattenbauten prägten bald das Bild von Wilhelmsburg.

Der erste große Aufschrei kam, als Mitte der 90er-Jahre eine Müllverbrennungsanlage auf der Insel gebaut werden sollte. "Jeder Dreck kommt hier her", schimpften die Wilhelmsburger und schlossen sich zusammen. Der nächste Schock war das Drama um den sechsjährigen Volkan im Jahr 2000, der von zwei Kampfhunden totgebissen wurde. "Hilferufe aus der Bronx", wurden Berichte überschrieben, Wilhelmsburg hatte seinen Stempel weg. Die Stadt reagierte mit einer "Zukunftskonferenz". Dabei entstand das Motto vom "Sprung über die Elbe".

Im Jahr 2006 legte Uli Hellweg mit seinem IBA-Team los. Vom "Alles wird gut" ist man noch ein gutes Stück entfernt, das weiß er. Aber gegen Zweifler zieht er vehement zu Felde. Alle Pläne seien noch immer bis 2013 umzusetzen, sagt er: "Das ist ambitioniert, aber es ist zu schaffen." Der Sprung über die Elbe habe sich verfestigt und beruhe auf einer realistischen Dimension. Tatsächlich aber hat sich die IBA von mancher Vision verabschieden müssen. Von neuen Einfamilienhaus-Arealen im ländlichen Wilhelmsburger Osten zum Beispiel. Auch von der "Perlenkette" am Reiherstieg, einer Art Mini-HafenCity, ist nichts mehr übrig geblieben. "Das wäre in einem Kleinkrieg mit der Hafenwirtschaft geendet", hakte der Stadtplaner das Thema ab.

Es gibt aber auch Erfolge. Wer genau hinschaut, kann in einem Teil der Insel eine deutliche Wende entdecken. Nicht bei den Plattenbauten in Kirchdorf, nicht in der Windmühlen-Idylle im Osten - dafür aber im alten Arbeiter- und Gründerzeit-Quartier, dem Reiherstieg-Viertel im Westen Wilhelmsburg. Nicht weit weg vom Dockville-Festival leben hier immer mehr Studenten und Künstler. Kräftig gefördert vom städtischen Wohnungsunternehmen Saga: Höchstens 178 Euro kostet in Wilhelmsburger Saga-Wohnungen ein Zimmer in einer WG, mehr als 500 Studenten haben sich deswegen in den vergangenen Jahren hier angesiedelt. Die "wilde 13", der Metrobus 13, ist ihre Nabelschnur in die City. Restaurants oder Cafés haben neu eröffnet. "Hier hat sich das Stadtbild enorm verändert", lobt Wilhelmsburg-Aktivist Humburg. Das Reiherstieg-Viertel ist heute Ottensen mit Berliner Einschlag. Noch ist dort mehr Kopftuch als Gucci zu sehen, mehr Gemüseläden als Coffeeshops. Eine Mischung, die das Viertel dennoch interessant und - vielleicht viel wichtiger - günstiger macht als die Hamburger Szenestadtteile.

Doch schon warnen erste Stimmen vor Verdrängung. Kritiker aus der Aktivistenszene fordern eine "Entschleunigung der IBA". Denn tatsächlich steigen die Preise. Für ein Gründerzeit-Mietshaus im Reiherstieg-Viertel zahlte man vor einigen Jahren etwa den Preis von acht Jahren Kaltmiete-Ertrag, heute sind es schon 13 Jahre.

Noch lohnt sich das. Davon ist zumindest Narettin Tatar überzeugt. Der Taxiunternehmer ist vor 20 Jahren auf die Insel gezogen. "Ich bin kein echter Wilhelmsburger", lacht er, "höchstens ein Neu-Wilhelmsburger." Er fährt während der drei Dockville-Tage Besucher von den S-Bahnhöfen zum Reiherstieg und macht gute Geschäfte. "Hier ist jetzt Ausnahmezustand und viele Anwohner fluchen", sagt er.

Doch wenn die Dockville-Bühne abgebaut ist, wenn wieder Bagger und Lkw das Bild beherrschen, dann geht es wieder um die Zukunft des Stadtteils. "Und da", sagt Tatar, "glauben viele meiner Freunde und in meiner Familie, dass es sich lohnt, jetzt hier zu investieren oder ein Geschäft auf zumachen." Noch wisse man nicht, ob das alles nur Träume bleiben. Aber die Hoffnung ist groß. Ähnlich zuversichtlich ist auch Manuel Humburg. "Das Leben ist widersprüchlich", sagt er, "und die IBA und der Sprung über die Elbe sind es auch. Aber wir glauben immer noch an eine große Chance."