Das Gericht hält Stefan H. für schuldig, der Becherwerfer vom Millerntor zu sein. Dem Mann droht jetzt eine Zivilklage über 400.000 Euro.

Neustadt. Bestimmt hat er das alles nicht gewollt. Und ganz sicher hat er die fatalen Folgen seines Handelns überhaupt nicht erahnen oder überblicken können: die Verletzung eines Linienrichters während des Fußballspiels St. Pauli gegen Schalke 04, den Abbruch der Bundesligapartie, den späteren horrenden finanziellen Schaden für den Hamburger Verein. Vermutlich war es nur der Frust über ein aus seiner Sicht wenig erfreuliches Match, das einen Fan zum Wurf eines gefüllten Bierbechers auf das Spielfeld trieb. Doch die scheinbar kleine Tat mit der riesigen Wirkung hat jetzt auch strafrechtliche Folgen: Das Amtsgericht hat den Mann, der wegen des Becherwurfs vom 1. April dieses Jahres angeklagt ist, wegen gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen und verwarnt. Eine Geldstrafe von 12.000 Euro setzt der Richter zur Bewährung aus. Zusätzlich muss der Angeklagte Stefan H. eine Geldbuße von 3000 Euro zahlen, die Hälfte davon geht als Schmerzensgeld an den verletzten Linienrichter.

Der 44-jährige Angeklagte äußert sich während des fast siebenstündigen Prozesses nicht zu den Vorwürfen, lediglich zu seiner Person macht er Angaben. Nur die mahlenden Kiefer des groß gewachsenen Seevetalers lassen die Anspannung des Mannes erahnen. Von seiner Schuld überzeugt ist der Richter aufgrund der Aussage zweier Zeugen. Sie bekunden vor Gericht, sie hätten auf der Tribüne beobachtet, wie ein Mann neben ihnen einen Becher in der Hand gehalten und dann eine Ausholbewegung gemacht habe. Er habe "wie beim Boule oder Boccia" geworfen. Dann sei ein Gegenstand in Richtung des Spielfeldes geflogen und habe den Linienrichter getroffen. Daraufhin sei der Werfer, nunmehr ohne Becher in der Hand, "zügig" weggelaufen, schließlich aber von Ordnern festgehalten worden.

"Ich kann sicher sagen, dass derjenige, der festgenommen wurde, der war, der neben mir stand und dann weggelaufen ist", bestätigt einer der Zeugen. Vor der Aktion habe jener Mann noch "Scheiß-Spiel" oder "Scheiß-Schiri" gewettert. So ein Becherwurf gehöre "nicht auf den Sportplatz", findet einer der beiden Männer, ein 68-jähriger Fußballfan aus Lübeck. Und der andere, nach eigenem Bekunden seit 50 Jahren Besucher am Millerntor, meint ebenfalls, eine solche Tat habe "beim Sport nichts zu suchen".

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Das Gefäß hatte den Linienrichter Thorsten Sch. schwer am Nacken getroffen, der 36-Jährige war wenige Augenblicke später kurz zu Boden gegangen. Er habe seinerzeit einen "heftigen Schlag" gespürt, erklärt der verletzte Schiedsrichter-Assistent jetzt im Prozess als Zeuge. "Ich war kurz benommen und dachte: Ich muss hier weg. Ich wusste ja nicht, ob noch was kommt. Ich hatte einen Moment lang Angst." So einen Angriff habe er "in 20 Jahren nicht erlebt". Er habe nach dem Schlag starke Schmerzen gehabt, unter anderem eine Schädelprellung erlitten und sei nicht in der Lage gewesen, das Spiel fortzuführen.

Die Bundesligapartie war nach dem Vorfall in der 87. Minute abgebrochen und mit 2 : 0 für Schalke gewertet worden. Der DFB hatte St. Pauli in der Folge zunächst zu einem Geisterspiel verurteilt, die Strafe aber dann später reduziert. Die Hamburger mussten ein Heimspiel in einem fremden Stadion außerhalb der Hansestadt austragen. Durch die Spielverlegung nach Lübeck - es durften nur 12.500 Karten verkauft werden - entstand dem Verein ein Schaden von rund 400.000 Euro.

Damit ist der Becherwurf wohl "das teuerste Bier aller Zeiten", wie eine Zeitung titelte. Und ein Schaden, der den finanziellen Horizont von Stefan H. bei Weitem übersteigen dürfte. Der Vorwurf, er sei der Täter, habe sein Leben "radikal verändert", erzählt der Projektmanager mit Doppelhaushälfte in Seevetal südlich von Hamburg. Es sei "schlimm" gewesen, als Familienvater so massiv im öffentlichen Interesse zu stehen. Bei seiner Festnahme hatte er betont, er habe "nichts gemacht". Seine Eintrittskarte habe er verloren. Tatsächlich hatte die Polizei in seiner Tasche das Sponsoren-Ticket für einen Business-Seat gefunden, am Handgelenk hatte er ein VIP-Bändchen getragen. Von seinem Recht, jetzt in der Hauptverhandlung vor der Urteilsverkündung noch etwas zu seiner Verteidigung zu sagen, macht Stefan H. keinen Gebrauch. Er schließe sich seinem Verteidiger an, murmelt er lediglich. Der Anwalt fordert Freispruch. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft plädiert dagegen auf eine achtmonatige Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung.

Mit seinem Urteil bleibt der Richter deutlich unter dieser Forderung. Er gehe von einem "minderschweren Fall aus", erläutert er. Aber nicht, weil er die Tat etwa billige. "Da gibt es nichts zu beschönigen." Von der Schuld sei er überzeugt wegen der "sehr differenzierten Sachverhaltsschilderungen der Zeugen". Auch er sei "fußballbegeistert", sagt der Richter in der Urteilsbegründung, und er wisse um Emotionen beim Fußball wie Leidenschaft oder auch Frust. "Aber wenn sich der Frust gewaltsam entlädt, wird das zum Problem. Und wer im Stadion randaliert, ist dafür zur Rechenschaft zu ziehen."

Er schade zudem sich "und auch dem, den er eigentlich anfeuern will". Es habe schon früher bei anderen Fußballpartien Becherwürfe oder auch Schlägereien gegeben und auch danach. Allerdings hätten viele der Täter das Glück gehabt, nicht erwischt zu werden. Bei der Verurteilung von Stefan H. gehe es nicht darum, ein Exempel zu statuieren, betont der Richter. "Jeder muss sich seiner Verantwortung stellen."

Bei dem Becherwurf auf den Linienrichter handele es sich um eine "ziemlich feige Tat". Allerdings sei der Angeklagte, ein bislang strafrechtlich unbescholtener Familienvater, kein Hooligan, sondern ein Mann, der aus fehlgesteuerter Frustbewältigung "situativ versagt" und wohl "den Fehler seines Lebens begangen" habe. "Eine Dummheit, und die Lebenssituation dreht sich um 180 Grad."

Die Aussicht, dass auf den Angeklagten jetzt möglicherweise eine Schadenersatzklage in Höhe von 400.000 Euro zukommt, hat der Richter als strafmildernd gewertet.

Ob der Verein nun tatsächlich eine Klage anstrebt, werde auf der nächsten Präsidiumssitzung am kommenden Freitag Thema sein, sagt St.-Pauli-Vizepräsident Gernot Stenger dem Hamburger Abendblatt. "Dann werden wir entscheiden, wie wir vorgehen." Der Verteidiger von Stefan H. kündigt unterdessen an: "Wir werden Rechtsmittel einlegen."