Es ist Kriegsende und Hamburg liegt in Schutt und Asche. Helmut Schmidt lockt eine Karriere in der SPD, aber auch ein Onkel in Amerika.

Hamburg. Der kleine Moritz ist tot, Ehemann Helmut an der Westfront. Mit Unterstützung eines befreundeten Arztes treibt Loki Schmidt einen weißen Sarg auf. Noch Jahre später erscheint ihr in Träumen die dann folgende Szenerie: Auf einem Leiterwagen wird der Leichnam zum Dorffriedhof nach Schönow bei Berlin gebracht. Auf beiden Seiten der Allee stehen Pappeln, die ersten Knospen glänzen in der Februarsonne. Es sind Momente, welche die Seele nachträglich frösteln lassen.

Die Sowjets rücken auf Berlin vor, nachts hört Loki die Panzer. Allerhöchste Zeit zur Flucht. Mit einem Beutel voller Habseligkeiten fährt sie mit dem Zug nach Hamburg. Überglücklich schließen die Eltern ihre älteste Tochter in ihre Arme. 13 Feldpostbriefe mit der Hiobsbotschaft von Moritzelchens Tod schickt Loki ihrem Ehemann, doch erst der letzte erreicht ihn. Wo auch immer. Helmut entrinnt dem Tod, erhält Urlaub auf Ehrenwort, marschiert ostwärts gen Heimat. In einem Waldstück bei Soltau wird er von zwei britischen Soldaten festgenommen. Es ist der 24. April 1945. Schmidt wird in das britische Lager 2226 in Belgien gebracht. Gefangen, aber gerettet.

Es folgt der 31. August 1945, ein Freitag. Zwar liegt Hamburg nach wie vor in Schutt und Asche, doch schöpfen die Menschen wieder einen Hauch Hoffnung. In der Behausung der Familie Glaser in Neugraben, mehr Gartenlaube als Wohnung, leben mehrere Menschen unter erbarmungswürdigen Zuständen auf wenigen Quadratmetern ohne Strom und Wasser. Loki ist gerade mit Hausarbeit beschäftigt, als sie ihren Ohren nicht traut. Von draußen hört sie den Familienpfiff.

Lokis Herz macht den vielleicht größten Hüpfer ihres Lebens, aufgeregt eilt sie vor die Tür. Barfuß, wie sie ist. Dort steht Helmut, ein Mensch nur aus Haut und Knochen. In einem Interview im hohen Alter gibt Helmut Schmidt an, lediglich zweimal in seinem Leben so richtig heftig geweint zu haben. Mehr will er dazu nicht sagen. Es wäre eine Überraschung, wenn dieser letzte Augusttag 1945 nicht dazugehörte.

Von neuem Lebensmut beseelt, erhält Loki Ostern 1946 eine Stelle als Lehrerin in Fischbek, in einem Gebäude von 1880. Sie betreut eine zweite Klasse, die sieben- und achtjährigen Kinder sind allesamt ausgemergelt. Als enorme Hilfe erweist sich die von den USA finanzierte Care-Schulspeisung. Regelmäßig werden große grüne Tonnen mit warmer Suppe angeliefert.

Ein Segen für das Ehepaar Schmidt, dass Loki nun Geld verdient. Helmut kann dies, von ein paar Nebenjobs abgesehen, nicht von sich behaupten. Nach dem Abitur und gut acht Jahren als Soldat muss er beruflich neu durchstarten. Der alte Traum, Architekt und Stadtplaner zu werden, ist nach wie vor präsent.

Da diese Studienfächer derzeit in Hamburg nicht angeboten werden, bliebe nur Hannover als Ausweichort. Da allein die Fahrerei viel zu aufwendig und teuer ist, entschließt er sich zu einem "Brotstudium": Hauptsache, zügig zu absolvieren und mit guten Aussichten auf eine Anstellung danach. Ohne dass groß darüber diskutiert wird, ist somit klar, dass Loki für lange Zeit Alleinverdienerin ist.

Helmut Schmidt schreibt sich in Hamburg in den Fachbereichen Volkswirtschaftslehre und Staatswissenschaften ein. Dort lernt er, im dritten Semester den späteren Wirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller kennen. In einem Park vor dem Uni-Hauptgebäude an der Edmund-Siemers-Allee trifft er seinen späteren Freund Karl Wilhelm "Willi" Berkhan. Dieser wird später nicht nur Wehrbeauftragter des Bundestages und parlamentarischer Staatssekretär unter Verteidigungsminister Helmut Schmidt, sondern auch Nachbar der Schmidts am geliebten Brahmsee sein werden.

Immer häufiger wird sich der nunmehr begründete Kreis in seinem weiteren Leben schließen. Helmut Schmidt will die Chance des Neuaufbaus nutzen. Bei den Debatten im Kommilitonenkreis kann er sich ereifern, entdeckt jedoch auch sein Geschick, andere zu überzeugen und argumentativ auf seine Seite zu ziehen. Schlüsselerlebnis ist am 11. August 1946 eine Wahlkampfrede des nach der Kapitulation heimgekehrten Max Brauers in Planten un Blomen.

Altonas Oberbürgermeister während der Weimarer Republik, ein Sozialdemokrat mit Herz, Seele und Verstand, hält eine flammende Ansprache, die Menge ist wie elektrisiert. 80 000 Hamburger skandieren wie aus einem Munde: "Max, bleib hier!" Denn noch ist Brauer, übrigens Sohn eines Glasbläsers aus "Mottenburg" (Ottensen), amerikanischer Staatsbürger.

Männer dieses Formats, so schießt es Helmut Schmidt durch seinen Kopf, können Hamburg und Deutschland nach vorn bringen. Er entschließt sich, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) beizutreten.

Basis erster politischer Kärrnerarbeit ist Neugraben, der Wohnort. Abends knien die Schmidts mit einigen Genossen in einem kargen Raum und malen Parolen auf Makulaturpapier. Es sind die ersten Wahlplakate des jungen Deutschlands. Helmut Schmidt hat Feuer gefangen. In Neugraben wird er zum Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten innerhalb der SPD gewählt und im Sommersemester 1947 zum Hamburg-Chef des in dieser Zeit noch zahmen Sozialistischen Deutschen Hochschulbundes bestimmt.

Es folgt der Aufstieg zum Bundesvorsitzenden dieser Organisation. Im Dezember 1947 kommt es in Hannover zum ersten Treffen mit dem charismatischen SPD-Chef Kurt Schumacher. Eine steile Karriere beginnt.

Parallel tut sich familiär Entscheidendes: Im Mai 1947, zwei Jahre nach dem Tod ihres Erstgeborenen Helmut Walter Moritz und einer Fehlgeburt in der Nachkriegszeit, kommt mit Susanne ein gesundes Kind zur Welt. Endlich!

1949 ist ein ereignisreiches Jahr. Am 23. Mai tritt das Grundgesetz in Kraft. Helmut hat sein Examen in der Tasche, Loki erhält eine Stelle in der Schule Hirtenweg (später Othmarscher Kirchenweg). Die Schmidts ziehen in eine kleine Wohnung an der damaligen Lindenallee 22 nahe der Elbchaussee. Noch ist nicht klar, ob die Familie in ihrer Heimatstadt bleiben wird.

Weil sich Helmuts Jobsuche nicht einfach gestaltet. Erfolglos spricht er in der Redaktion des "Hamburger Echos" vor, einer während der Weimarer Republik gegründeten, sozialdemokratisch geprägten Zeitung. Sie veröffentlichte zuvor einige seiner Artikel, doch wird sein Gesuch abgeschlagen. Ob ein Redakteur des Blattes, der frühere Kommunist Herbert Wehner, an dieser Entscheidung beteiligt ist, bleibt unklar.

Helmut Schmidt ist schon jetzt ein Politiker mit Ecken und Kanten, der offen seine Meinung sagt und auch forsche Thesen von sich gibt. Dass der von den Genossen später "Onkel" gerufene Wehner noch eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen wird, ahnt Schmidt natürlich nicht. Beide lernen sich erst später schätzen. Noch 1949 wird Helmut Schmidt zunächst zum Referenten, anschließend zum Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung in der Behörde für Wirtschaft und Verkehr ernannt. Oberster Chef ist Senator Karl Schiller. Das Büro befindet sich an den Großen Bleichen, vis-à-vis dem damaligen Ohnsorg-Theater. Schmidt pflegt nur ungern mit dem Paternoster in seine Amtsstube zu fahren. "Ich hatte Angst, dort irgendwann auf dem Kopf zu stehen", erinnert er sich später.

Auch wenn Helmut Schmidt weiter hoch erhobenen Hauptes durch Hamburg geht, ist der Verbleib in der Hansestadt immer noch nicht sicher. Am Schreibtisch über Akten zu sitzen ist nicht recht nach dem Geschmack einer Persönlichkeit, die es immer schon hinaus in die weite Welt zog. Und nachdem 1939 die Bewerbung bei der Deutschen Shell mit Aussicht auf Indonesien wegen des Kriegsausbruchs nicht realisiert werden konnte, ergibt sich 1950 eine weitere, überraschende Option.

Im Auftrag des Senats und der Wirtschaftsbehörde fliegt Abteilungsleiter Schmidt in die USA. Auftrag: bei einer Messe in Hamburgs heutiger Partnerstadt Chicago Werbung für den Hamburger Hafen zu machen.

Da ohnehin schon vor Ort, stattet er seinen Verwandten in Duluth in Minnesota einen Besuch ab. Onkel August hat es in der Neuen Welt zu einem gemachten Mann gebracht und rät seinem Neffen, diesem Beispiel zu folgen. Er könne auf der Stelle einen erstklassigen Job in seiner Eisengießerei übernehmen.

Auch mit Rücksicht auf die nunmehr dreijährige Susanne und Lokis krisensichere Stellung als Lehrerin wird der Auswanderungsplan verworfen. Da Loki nur 250 Mark im Monat verdient und er nicht sehr viel mehr, beantragt Helmut Schmidt einen Bankkredit über die seinerzeit immense Summe von 5000 Mark. Von diesem Geld leistet er sich - nach dem VW Käfer - einen gebrauchten Mercedes 170 Diesel. Unter dem Strich bewilligt wird das Darlehen von Karl Klasen, dem späteren Präsidenten der Bundesbank. Im Moment der Kreditbewilligung ist Klasen Chef der Norddeutschen Bank. Die Herren werden sich noch oft sehen.

Lesen Sie morgen Teil 5 - "Der Helmut muss das machen": Die Schmidts kaufen ein Haus in Langenhorn und entdecken den Brahmsee. Dann kommt die Flut. Und 1974 tritt Bundeskanzler Brandt zurück.