Die Freiheit des Studentenlebens bleibt an der Uni Hamburg nur ein Traum. Das resignierte Protokoll einer Germanistik-Studentin.

Der Tag könnte so schön sein. Ich dachte, mein Stundenplan für dieses Wintersemester steht soweit. Die Regeln für die Leistungsnachweise, die offenbar mit jedem Semester neu überarbeitet werden, habe ich entschlüsselt, geklärt ist auch die alles entscheidende Frage "Wie viele Leistungspunkte gibt's für welche Veranstaltung?" Aber morgens um halb zehn wartet im Geschäftszimmer des Fachbereichs Germanistik im 4. Stock des Philosophenturms wieder mal eine Ernüchterung auf mich. Ich kann nicht einfach mein Studium so aufbauen, wie es für mich einen Sinn ergibt.

Als Germanistik-Studentin bin ich zur Zeit in der "Aufbauphase", wie das vierte und fünfte Semester heißt. In dieser Phase muss ich vier "Module" wählen, von denen höchstens zwei meinem Schwerpunkt entsprechen dürfen: Theater und Medien. Module sind Lehreinheiten, die quasi zusammengesteckt werden wie in einem Baukasten. In Germanistik habe ich unter anderem "Linguistik" belegt und in meinem Schwerpunktbereich das Pflicht-Modul "Grundlagen der Medien/Theater" sowie "Mediengeschichte und -gegenwart".

Dann könnte ich neben den Pflichtseminaren wenigstens im Wahlbereich Veranstaltungen besuchen, die über den Horizont der Germanistik hinausreichen. Wie zum Beispiel Philosophie, Musikwissenschaft oder Kunstgeschichte. Hatte ich jedenfalls gedacht.

Das war ein Irrtum.

Denn den Wahlbereich muss ich jetzt dafür nutzen, dass mein Studienschwerpunkt überhaupt ein Schwerpunkt wird, erfahre ich von dem kompetenten Mitarbeiter im Geschäftszimmer. Das bedeutet: mindestens noch eine Veranstaltung im Wahlbereich den Themen Theater und Medien zu widmen. Soll ich also Philosophie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte einfach links liegen lassen und meinen Input nur aus der Germanistik holen?

Das stand in der Studienordnung anders. Da stand, der Wahlbereich sei dazu gedacht, wenigstens im Ansatz ein Studium im Sinne Alexander von Humboldts zu versuchen, also fachübergreifend auch andere Wissenschaften kennenzulernen und so unterschiedliche Zugänge zur Welt zu entdecken. Jetzt muss ich neu nachdenken. Ich hasse Entscheidungen, vor allem solche, bei denen es nur um die Wahl zwischen zwei kleineren Übeln geht.

Jetzt ist es schon zehn nach zehn, und ich muss hoch in den zwölften Stock zu meinem Italienischkurs Grammatica III . Für das Nebenfach Italienisch habe ich mich entschieden, weil es da keine Zulassungsbeschränkungen gibt. Und bisher habe ich es nicht bereut. Eine Sprache zu erlernen ist ein Genuss. Obwohl ich die Einführungskurse über acht Wochenstunden im Schnelltempo passieren muss. Wir sind etwa 25 Leute im Kurs. Buon giorno, allora comminciamo . Ich bewundere die Dozenten dafür, wie sie es schaffen, die Grundgrammatik lebendig zu vermitteln, obwohl sie selbst spüren, dass für intensiven Sprachunterricht schlichtweg die Zeit fehlt.

Viertel vor zwölf. Von den sechs Fahrstühlen ist komischerweise immer einer außer Betrieb. Der mit der langsamsten Tür der Welt ist proppevoll und hält auf dem Weg nach unten in jeder Etage, jedes Mal rattert die Tür aaaauuuf und zuuuuu. Jetzt erst mal eine Pausenzigarette. Vor dem Philturm wehe ich fast weg, in seiner L-Form wird aus dem lauesten Lüftchen ein wütender Wirbelsturm. Eine Germanistik-Kommilitonin gibt mir Windschutz.

Wir unterhalten uns ein bisschen - was hast du gewählt, das hab ich gewählt - und stellen fest, dass wir beide mit unserer Seminar- und Vorlesungswahl unzufrieden sind. Das Angebot war ja auch ziemlich mager, besonders im Bereich Theaterwissenschaft. Zu wählen gab es für die Aufbauphase nur eine Vorlesung: "Theaterautorinnen heute: Traditionen - Themen - Theaterästhetik". Eins der beiden angebotenen Seminare hatte ich schon als Pflichtmodul vor einem Jahr abgehandelt. Da wäre für mich also nicht viel Neues dabei. Wieso wird nicht mehr angeboten? In der Theaterstadt Hamburg ist das Fach offenbar nicht so wichtig und wird kaum noch mit Lehrstühlen bestückt. Die Gestaltung meines Schwerpunktfachs scheint sich einfach aufzulösen.

In der Mensa muss es jetzt schnell gehen. Also Chili con Carne für einsfünfundachtzig oder doch lieber Kartoffelpuffer mit Apfelmus für zweizwanzig? Nein, ich rette das Geschnetzelte vor dem Ertrinken in einer rotbraunen Soße, das auch nicht teurer ist, bevor ich um viertel nach zwölf im zweiten Stock in meinen ABK-Kurs stürze. ABK heißt "Allgemeine Berufsqualifizierende Kompetenzen", diese Veranstaltungen sind Pflichtprogramm für alle Studierenden. Ein ABK-Modul besteht aus einem Seminar und einem Schlüsselkompetenzkurs.

In einem meiner ersten ABK-Module - "Berufsfelderkundung" - kam ich mir vor wie in der zehnten Klasse, als säße ich im Berufsinformationszentrum, wo man mir erzählt, was ich alles mit meinem Studium etwa im Bereich Hörfunk/Film/Fernsehen werden kann. Das könnten mir mein Verstand oder ein paar Internetseiten via Google genauso gut sagen. Darüber musste für das ABK-Seminar dann ein zwölfseitiger Bericht geschrieben werden - bis jetzt die größte Farce meiner Uni-Zeit. Im letzten Sommersemester lernte ich im ABK-Seminar, wie ich mich für das Praktikum bewerbe, das ich machen muss. Dabei hatte ich meinen Praktikumsplatz schon längst in der Tasche. "Der ABK-Bereich ist wie das Arbeitsamt, nur an der Uni", hat ein Kommilitone neulich gesagt, "vielleicht will die Studienordnung uns nur darauf gefasst machen."

In diesem Kurs jetzt geht es um "Schlüsselqualifikationen 1, Recherche und Informationskompetenz". Nur 20 Plätze, aber an die 120 Bewerber. Ich kann mich also glücklich schätzen, dass mich STINE - das elektronische Studienverwaltungs-Programm - dafür zugelassen hat. Denn belegen muss ich den Kurs ja, damit ich genug Leistungspunkte habe und mein Modul in der erlaubten Zeit abschließe.

Natürlich, diese Vereinheitlichung mit genauen Vorgaben, wann was wie lange zu studieren ist, soll bei der Orientierung helfen; und es soll gewährleisten, dass wir als Germanistik-Studierende wirklich alle Teilbereiche des Fachs einmal kennengelernt haben. Das ist gut. Nur hätte ich diesen ABK lieber im nächsten Semester gemacht. Denn nun verpasse ich eine Goethe-Vorlesung, die ich liebend gerne gehört hätte.

Schwerer zu ertragen finde ich aber den Befehlscharakter der Studienordnung, der mein Studium entpersonalisiert. Man hat eine "freie Wahl", aber nur innerhalb so eng abgesteckter Grenzen, dass ich das Studium als ein ständiges Müssen erlebe und nicht als Können, Wollen und Entwickeln. So als müsste jemand umfassend für uns denken und planen, weil wir selbst dazu komplett unfähig sind.

Wir Studierenden sind wieder in der Schule mit Frontalunterricht, nur dass unsere mündliche Leistung hier nicht mehr bewertet wird. Wie in meinem Literaturseminar zum "labyrinthischen Erzählen bei Kafka und Benjamin": Da saßen knapp 40 Studenten, aber nur fünf beteiligten sich aktiv am Seminargespräch, Wortbeiträge sind schließlich kein Muss. Viele kamen nur wegen der Modul-Pflicht. So entfaltet sich kein Geist der "Freien Lehre", der motiviert und Enthusiasmus fordert. Als eine Studentin im Seminar fragte, ob Kafkas Erzählung "Der Bau" verfilmt worden sei, stöhnte ein Kommilitone, der sich nie vorher zu Wort gemeldet hatte, entnervt: "Was muss das denn bitte für ein langweiliger Film sein?" Er wollte offenbar nicht wirklich hier sitzen. Aber er musste.

Die Gespräche in den Seminaren leben vom gegenseitigen Austausch. Und der hängt von uns Studierenden ab. Man muss sich nur reinknien wollen - das war wohl schon immer so. Das ist aber auch schon alles, was wir beeinflussen können.

Wenn ich die Module frei belegen und kombinieren könnte, wenn die Studienzeit nicht so statisch in Einführungs-, Aufbau-, und Vertiefungsphase gegliedert wäre, dann könnte ich die richtigen Seminare auch in der "falschen" Phase belegen, könnte mich bewusst entscheiden, etwas zu vertiefen oder auch mal etwas auszuprobieren. Und ich könnte mir mit den Hausarbeiten ein bisschen mehr Zeit lassen (das funktioniert teilweise, es kommt allerdings auf den Dozenten an). Individualität kann Großes bewirken. Aber an den Geist der lebendigen, inspirierenden und bunten Lehre hat im Bologna-Prozess niemand gedacht.

Um 14 Uhr setze ich mich an einen der Rechner in der Bibliothek im 3. Stock und sehe nach, ob die Bücher, die ich brauche, hier oder in der Staatsbibliothek vorhanden sind. Klar, hier sind sie natürlich wieder vergriffen. Ich muss es in der Bücherhalle am Hühnerposten versuchen. Dort leihe ich mir schon den größten Teil der Sekundärliteratur für meine Hausarbeiten aus. Zwei Stunden später ist für heute Schluss. Morgen wird mein Großkampftag mit drei Veranstaltungen zwischen 10 und 18 Uhr.

Studieren, dieses Wort war einmal ein Synonym für Freiheit, die schönste Zeit des Lebens. Tendenziell ist das immer noch so. Die meisten studieren noch nach Neigung und meist an dem Ort, wo sie sein möchten. Aber die Umstände sind sehr anders als noch vor 20 oder 30 Jahren, als unsere Eltern studierten. Nostalgische Wehmut nützt nichts: Die Welt scheint sich schneller zu drehen, also wird man auch schneller alt, und die Kraft liegt nicht mehr in der Ruhe, sondern in der Beschleunigung.

Die Wahrscheinlichkeit, dass mein persönlicher Studienplan voll aufgeht, ist gering. Die Hochschulreform presst das Studieren in ein anderes System, eins, dessen Sinn und Zweck nur ökonomisch beschrieben wird. Was die Studierenden der Uni Hamburg wirklich zu spüren kriegen, wird nicht genannt: Die Folgen von "Bologna" zerren an den Nerven, im Alltag, ganz konkret. Nicht nur, weil man so oft nur einen Platz auf der Fensterbank bekommt, wegen des Mensaessens, weil jeder die Studiengebühren fürchtet. Sondern weil mein Wissensdurst wegverwaltet wird.

Ich will doch einfach nur studieren. Aber ausgerechnet da, wo wir selbstständig planen müssten, sollen Modultabellen für uns entscheiden, die mit einer individuellen und sinnvollen Koordination nichts zu tun haben. Diese Einschnitte gehen tief, und sie berühren mittlerweile auch die Ansprüche, die wir Studierenden an uns selbst stellen und die bei vielen stetig sinken.