Immer mehr Kinder leiden an psychosomatischen Beschwerden, sind öfter depressiv. Das Kinderkrankenhaus am Heidberg plant Tagesklinik.

Hamburg. Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchweh, Herzschmerzen und Schwindel haben bei Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren erschreckend zugenommen. "Teilweise kommen die Patienten mit Rettungs- oder Notarztwagen in die Klinik", sagt Norbert Veelken, 60, Leiter der Kinderklinik an der Asklepios-Klinik Nord (Heidberg). Doch körperliche Ursachen finde er nur selten - der Großteil der Patienten leide an psychosomatischen Beschwerden und werde nach Hause geschickt, ohne dass körperliche Ursachen dafür gefunden worden seien. Die Abklärung dauere jedoch häufig zwei bis drei Tage - was einen Krankenhausaufenthalt und oft den Einsatz teurer Apparatemedizin erfordere. "Kostenintensive Sicherheitsmedizin" nennt Veelken das. Um dem Problem künftig besser begegnen zu können, wird demnächst auf dem Krankenhausgelände eine psychosomatische Tagesklinik eröffnet. Betrieben wird sie von der kinderpsychiatrischen Abteilung des Kinderkrankenhauses Wilhelmstift, die mit den Heidberger Kinderärzten zusammenarbeitet.

Die Zunahme von psychischen Problemen im Kinder- und Jugendalter, die jetzt durch eine DAK-Studie belegt wird, bestätigt der Wilhelmsburger Kinderarzt Jürgen Stieh, 51. "Kinder sind heute öfter deprimiert und traurig", sagt er. Auch Konzentrationsstörungen und aggressives Verhalten bemerke er zunehmend bei seinen Patienten. Den Grund dafür sieht er darin, dass ein Teil der Eltern seine Kinder emotional vernachlässige. "Ihnen fehlen Ideen zur Kindererziehung", sagt er. Statt den Nachwuchs zu betreuen, halte dieser sich stundenlang alleine vor Fernseher und Computer auf.

Genau darin sehen auch die Ärzte, die bundesweit für die DAK-Studie befragt wurden, eine Wurzel des Übels - gemeinsam mit schlechter Ernährung und zu wenig Bewegung. Nach Ansicht der Ärzte treten dabei motorische Defizite besonders in der Altersgruppe der Drei- bis Fünfjährigen auf, dieser Meinung sind 70 von 100 Medizinern. 91 Prozent der Ärzte sehen Probleme beim Sprach- und Hörvermögen vor allem bei den Jüngsten. 45 Prozent der Ärzte halten Übergewicht vor allem bei den Sechs- bis Achtjährigen für alarmierend. In dieser Altersgruppe werden auch besonders gehäuft Verhaltensauffälligkeiten festgestellt, sagen 43 Prozent der Ärzte. Immer mehr Kinder halten sich bei Ergo-, Physio- oder Sprachtherapeuten auf. Das bestätigen auch Zahlen der Techniker Krankenkasse Hamburg.

So verschrieben die Ärzte in der Hansestadt im vergangenen Jahr für Kinder und Jugendliche bis 15 Jahren "funktionelle Therapien" wie Ergo-, Physio- oder Sprachtherapien im Wert von mehr als 19 Millionen Euro. "Das ist ein Plus von 21 Prozent gegenüber dem Vorjahr", sagt John Hufert, Sprecher der Techniker Krankenkasse. Auch hier sei ein Zusammenhang mit erhöhtem Fernsehkonsum zu beobachten: "Kinder, die täglich mehr als zwei Stunden fernsehen, brauchen nachweislich häufiger einen Therapeuten als andere", so Hufert.

Die DAK reagiert auf die Ergebnisse ihrer Studie alarmiert. "Die Gesundheitserziehung unserer Kinder muss ein stärkeres Gewicht bekommen", sagt Rüdiger Scharf von der DAK Hamburg. Gesundheitserziehung müsse in der Schule thematisiert, die Eltern einbezogen werden. Wie das umzusetzen sei, werde jetzt überlegt. Wichtig sei, Probleme wie Übergewicht bei den Vorsorgeuntersuchungen in den Mittelpunkt zu rücken, für die die DAK jährlich zehn Millionen Euro ausgibt. "Wir begrüßen, dass der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte eine Reform der Vorsorgeuntersuchungen fordert", sagt Scharf. Heute gebe es mit Sprache, Sozialverhalten und Motorik andere Schwerpunkte als vor 20 Jahren.

Besonders bei Grundschülern zwischen sechs und acht Jahren treten viele Gesundheitsprobleme durch Übergewicht auf, heißt es in der Studie. Kinderarzt Stieh aus Wilhelmsburg kann das bestätigen. "Es gibt nicht nur immer mehr dicke Kinder, sondern immer mehr extrem Dicke", sagt er. Ein Achtjähriger, der 50 bis 60 Kilo wiege, sei keine Seltenheit. Erkrankungen der Wirbelsäule, der Knie- und Hüftgelenke seien da programmiert. "Viele können die eigenen Füße nicht mehr anfassen", beklagt er. "Entweder, weil ihr Bauch zu dick ist, oder, weil sie zu unbeweglich sind." Gerade Adipositas (Fettleibigkeit) bedürfe jedoch mit zahlreichen Besuchen bei Ernährungsberatern und Psychologen einer besonderen Betreuung durch die Eltern; leisten würden das jedoch die wenigsten.

Die DAK bekommt das bei ihrem Präventionsprogramm "Safarikids" zu spüren. "Die Eltern schicken ihre Kinder gar nicht erst hin", sagt Rüdiger Scharf. Der Verein Moby Dick mit seinem Gesundheitsprogramm für übergewichtige Kinder beobachtet dasselbe. "Es wird immer schwieriger, Eltern und Kinder zu erreichen", sagt Geschäftsführer Hans-Jörg Klein. Obwohl der Bedarf steige, sinke das Interesse. Dicksein sei kein Makel mehr, klagt er. "Amerikanisierung" nennt er das.