Vor zehn Jahren wählte Hamburg den Wechsel: Rot-Grün verlor, Ole von Beust wurde Bürgermeister aber auch Olaf Scholz gehörte zu den Gewinnern.

Hamburg. Es war die seltsamste Wahlparty, die die Stadt bis dahin gesehen hatte. Auf der "Louisiana Star", einem dümpelnden Schaufelraddampfer unweit des Fischmarkts, tobte das Leben. Die Luft war zum Schneiden dick, die Band spielte Dixieland, und rund 600 Personen, berauscht vom italienischem Rotwein, einer Überdosis Holsten oder einfach vor Glück, starrten immer wieder ungläubig auf die Großbildleinwand. Eine Zahl hatte es der Partygesellschaft besonders angetan: 19,4 Prozent für die Schill-Partei. Und wenn der Shootingstar, der Amtsrichter Ronald Barnabas Schill, auf den Bildschirmen auftauchte, skandierte das Feiervolk "Ronald, Ronald". In Rufweite hallte ein verzerrtes Echo zurück: Vorwiegend junge Demonstranten brüllten ihr Entsetzen über das Wahlergebnis des 23. September 2001 heraus: "Schill raus!" Absperrungen, Wasserwerfer und zwei Hundertschaften der Polizei trennten kollektiven Übermut vor kollektiver Wut.

Die Nacht am Fischmarkt schrieb den Wahlsonntag fort, der die tiefe Spaltung der Stadt offenbart hatte. Hier das regierende Lager aus SPD und Grün-Alternativer Liste, dort der bunt zusammengewürfelte "Bürgerblock" aus CDU, Schill-Partei und FDP. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen, der Abend für alle Beteiligten eine Zitterpartie. Weil die Liberalen stundenlang mit der Fünf-Prozent-Hürde rangen, kippte das Wahlergebnis mehrfach. Zunächst sah es nach einem Sieg für die Herausforderer aus, dann durfte sich Ortwin Runde (SPD) als wiedergewählter Bürgermeister fühlen. Erst kurz vor 22 Uhr war klar: 680 Hamburger Stimmen hatten den Ausschlag gegeben und die FDP über die magische Marke gehievt.

Damit war die Sensation perfekt, und ein Wahlverlierer mit 26,2 Prozent stand vor dem Einzug ins Bürgermeisterzimmer. Ole von Beust, der von vielen bis dahin belächelte CDU-Herausforderer, sollte Senatspräses werden. Berührungsängste mit dem Rechtspopulisten Schill kannte damals weder die Union noch die FDP unter ihrem Spitzenkandidaten, dem Konteradmiral Rudolf Lange. In atemberaubender Geschwindigkeit machte Ole von Beust Nägel mit Köpfen. Schon Mitte Oktober stand das Bündnis aus CDU, Schill-Partei und FDP. Die Sozialdemokraten, die Hamburg-Partei, die Endlosregenten, hatten ihre Hochburg verspielt und fand sich erstmals seit 44 Jahren auf den Bänken der Opposition wieder. Wie konnte das passieren?

Viele Sozialdemokraten sprachen noch Monate später vom "Betriebsunfall" oder "Spuk" und führten das Desaster auf eine Verkettung unglücklicher Umstände zurück wie die Terroranschläge vom 11. September, die eine Al-Qaida-Zelle in Hamburg mitgeplant hatte. Dabei lag die Ursache weder in Trümmern des World Trade Centers noch in den Bergen am Hindukusch verborgen, sondern für alle offensichtlich in der Stadt: Im Dreieck Hachmannplatz, Steindamm, Kirchenallee.

Der Hauptbahnhof war bis weit in das Jahr 2001 herein eine Reise wert - für Junkies, Kleinkriminelle, Prostituierte - und für Journalisten und Kamerateams, die das Thema mehr und mehr entdeckten. Über die Jahre hatte sich am Hintereingang eine riesige offene Drogenszene etabliert, die es so in keiner deutschen Stadt gab. Selbst SPD-Parteifreunde wie der damalige niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer konstatierten: "Hamburg hat definitiv massive Probleme bei der inneren Sicherheit, es gibt schon lange Zeit eine offene Drogenszene, die fast an Züricher Verhältnisse erinnert." Wer mit der Bahn anreiste, landete im Untergrund - allerdings oberirdisch. Der Platz lag verwahrlost da, Junkies campierten hinter dem repräsentativen Bau der Jahrhundertwende, Urinschwaden waberten durch die Luft. Offen florierte der Drogenhandel, die Polizei schaute weg. Es war ein Bild des Scheiterns, das der rot-grüne Senat lange nicht erkennen wollte. Selbst Senatoren rieten der Mutter oder Freunden, doch lieber am Bahnhof Dammtor auszusteigen.

Innere Sicherheit war für Rot-Grün kein Thema, durfte keins sein. Schließlich ging es Hamburg gut, die Wirtschaft wuchs. SPD-Wirtschaftssenator Thomas Mirow konnte auf glänzende Wirtschaftsdaten, ein Jobwunder und die Ansiedlung von Airbus verweisen, Bürgermeister Runde und SPD-Finanzsenatorin Ingrid Nümann-Seidewinkel auf ihre Verhandlungserfolge beim Länderfinanzausgleich.

Natürlich waren da die katastrophalen Zustände im Schanzenpark oder am Bahnhof nicht das Hauptproblem der Stadt. Aber für immer mehr Hamburger steigerte sich die gefühlte Unsicherheit zur brennenden Sorge. Über Jahre hinweg wuchs die Kriminalität, zugleich sank das persönliche Sicherheitsempfinden. Weil einige Namen immer wieder auftauchten und die Fälle krasser wurden, verfestigte sich der Eindruck, der Senat handele nicht. Das Crash-Kind Dennis etwa zerlegte ein gestohlenes Auto nach dem nächsten. Ein Toter, Hunderte Fahrzeugdiebstähle und ein Millionenschaden gingen auf sein Konto. Doch weil das Prinzip "Menschen statt Mauern" Richtlinie der Politik blieb, bekam Dennis keine Haftstrafen, sondern Resozialisierungsprojekte mit Erlebnispädagogik im In- und Ausland verordnet. Mal ging es nach Dänemark oder Finnland, dann nach Neuseeland oder Polen. Dennis selber sagte später: "Heute denke ich, das war oft regelrecht Verleitung zum Diebstahl: 'Wenn du noch mal ein Auto klaust, kommst du nach Neuseeland', hat man zu mir gesagt. Neuseeland kannte ich noch nicht." In Polen wurde der notorische Autoknacker schließlich zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Ein weiterer Fall schockierte die Hansestadt: Zwei polizeibekannte Täter ermordeten den Tonndorfer Lebensmittelhändler Willi Dabelstein im Juni 1998. Obwohl die Jugendlichen schon etliche Taten auf dem Kerbholz hatten, war der Staat stets milde mit ihnen umgegangen. Kennengelernt hatten die beiden sich in einem offenen Heim für kriminelle Jugendliche, der Villa Pulverhof in Farmsen.

Das Unbehagen kam also nicht über Nacht - schon im Wahlkampf 1997 spielte die innere Sicherheit eine zentrale Rolle. Nur es änderte sich wenig. So sendete das Laisser-faire des Senats eine unmissverständliche Botschaft an die verunsicherten Bürger dieser Stadt: Eure Sorgen interessieren uns nicht.

Ein Profiteur der Angst war der 42-jährige Amtsrichter Ronald Schill, der mit einigen drakonischen Urteilen erst zum Liebling des Boulevards, dann zum Liebling der Wähler wurde. Mit einfachen Botschaften ("Härte zeigen") und großspurigen Versprechen ("Ich halbiere die Kriminalität binnen 100 Tagen") wirkte er wie ein Staubsauger des Protests. Er sammelte die Stimmen der Nichtwähler, der Rechten, enttäuschter Sozialdemokraten, verängstigter Besserverdiener. Auch wenn angesichts der folgenden Eskapaden kein Hamburger je Schill gewählt haben will, sprechen die Zahlen eine andere Sprache. In Wilhelmsburg errang er fast 35 Prozent, in Blankenese 18 und in Eppendorf immer noch rund zehn Prozent.

An manchen Tagen war Schill ein begnadeter Rhetoriker, an anderen Tagen ein Quartalsirrer. Weil es in Deutschland bis dahin wenig Rechtsausleger mit bürgerlichem Lebenslauf und hoher Intelligenz gab, war das Medienecho enorm - von der "Welt" bis zur "Zeit" bekam der Richter eine freundliche Presse. Über den Aufstieg des Populisten Schill sagte der Politikwissenschaftler Joachim Raschke schon damals: "Bemerkenswert, dass man mit nur einem Thema so erfolgreich sein kann. Das geht nur, wenn es vielen auf den Nägeln brennt und von der Regierung sträflich vernachlässigt wird."

Spät, zu spät, steuerte Bürgermeister Ortwin Runde um. Er ernannte als Antwort auf die Umfrageerfolge Schills Ende Mai 2001 Olaf Scholz zum Innensenator. Der eher auf der Parteilinken verortete Scholz änderte den Kurs des Senats radikal. Mit dem Motto "Ich bin liberal, aber nicht doof" griff er am Hauptbahnhof durch und setzte gegen Drogendealer massiv Brechmittel als Instrument "sozialdemokratischer Innenpolitik" ein - ein Verfahren, das für einen Afrikaner tödlich endete und später vom Europäischen Gerichtshof als menschenrechtswidrig verurteilt wurde. Während viele Linke Scholz in Anspielung an Schill zu "Scholl" umtauften, rüstete die Opposition verbal auf. Ole von Beust holte seinen alten Freund Roger Kusch als Mann fürs Grobe in sein Beraterteam. Innere Sicherheit war zum Topthema avanciert - und mit ihm wuchs die Wechselstimmung, die Ortwin Runde aus dem Amt blies. Kurz vor der Wahl forderten fast 60 Prozent der Bürger die Wende im Rathaus.

Viele Hamburger wählten am 23. September dann gleich das Original Schill und nicht die Kopien. In der Partynacht träumten einige seiner Anhänger schon von einem nachhaltigen Rechtsruck der Republik. Andere fürchteten, Schill werde die Richtlinien der Politik bestimmen, nicht Ole von Beust. "Sein Innensenator wird ihn allemal überragen. Und die im Schatten sieht man nicht", unkte die "Zeit", während die "FAZ" vor einer "Umorientierung des bürgerlichen Lagers" warnte.

Dabei blieb die Wahl 2001 nur ein weiterer Sonderweg der vagabundierenden Wechselwähler aus Hamburg. Schill und seine zusammengewürfelte Partei Rechtsstaatlicher Offensive entzauberte sich schnell. Der Mann, der sich anschickte, die Republik zu verändern, verzehrt seine Richter-Pension in Rio. Geschichte ist auch der Bürgermeister, den Schill erst möglich gemacht hat: Ole von Beust hat sich am 18. Juli 2010 zurückgezogen. Bleiben von Schill also nur peinliche Erinnerungen und blaue Polizeiuniformen?

Auch wenn die innere Sicherheit heute ein Randthema ist, hat 2001 vieles verändert. Es ist kein Zufall, dass die Stadt jetzt zwischen zwei ehemaligen Innensenatoren wählt - Christoph Ahlhaus und Olaf Scholz. Und doch ist Hamburg nicht wie in der Septembernacht 2001 befürchtet zu einer Hauptstadt der Intoleranz und des Rechtspopulismus geworden. 2011 wird auf der "Louisiana Star" am Wahlwochenende übrigens wieder gefeiert: Dann steigt hier der große Hamburger Tuntenball.