Für 2010 wird eine deutlich höhere Zahl von Taten erwartet. Täter im Fall Artur G. sind weiter auf der Flucht

Veddel. Es ist eine Tat, wie sie sich weit mehr als 1000-mal pro Jahr in Hamburger Bahnen, in Bussen, auf Bahnhöfen und in deren Zugängen abspielt: Ein Mensch wird geschlagen, getreten, verletzt. Artur G. ist eines von vielen Opfern. Nach Informationen des Hamburger Abendblatts ist die Zahl der Körperverletzungen im Bereich der Regionalbahnen, S-Bahnen und Bahnhöfe im Jahr 2010 deutlich gestiegen.

908 Taten waren es noch im Jahr 2009. Für 2010 wird ein vierstelliger Wert erwartet - wobei Zahlen erst nach Veröffentlichung der polizeilichen Kriminalstatistik bekannt gegeben werden. Doch, so weiß Rüdiger Carstens, Sprecher der für Bahnanlagen zuständigen Bundespolizei, die Zahlen werden sich erhöhen: "Die Tendenz 2010 zeigt leider eine deutliche Steigerung."

Was den Fall des 42-jährigen Artur G. allerdings besonders macht: Ihm wurde Leid angetan, weil er einem anderen Menschen ebendies ersparen wollte. So wie der Münchner Dominik Brunner, der nach einer vergleichbaren Situation starb, zeigte der 42-jährige, in Polen geborene Hamburger Zivilcourage. Seine Verletzungen werden heilen, doch er liegt weiterhin im Krankenhaus. Als Held fühlt sich der 100-Kilo-Mann nicht. In Gesprächen mit dem Abendblatt und dem TV-Sender RTL erinnert er sich an die Umstände der Tat: "Ich habe eingegriffen, weil das für mich selbstverständlich ist, dass wir den Schwachen helfen. Wer Hilfe braucht, der soll sie auch kriegen. Wir alle, ob Jugendlicher oder alter Mann, leben doch zusammen und wir sollten uns gegenseitig helfen. Wenn jemand Hilfe braucht, dann sollten wir doch reagieren - und nicht weggucken." Ein Appell an die Zivilcourage. Dem sich auch Polizeisprecher Mirko Streiber gerne anschließt: "Wenn es irgendwie geht, sollte man einschreiten, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen", sagt er. Das gelte für Auseinandersetzungen auf Bahnhöfen genauso wie anderenorts.

Immer wieder geraten aber gerade Taten in Bahnen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf Bahnsteigen in den öffentlichen Fokus. Zu Recht? "100-prozentige Sicherheit kann es nicht geben", betont Dirk Pohlmann, Sprecher der Bahn in Hamburg. Der Nahverkehr stehe zu Unrecht im Ruf, besonders von Kriminalität belastet zu sein. Tatsächlich scheint die Videoüberwachung, die in allen Hamburger Bahnhöfen und Zügen inzwischen installiert ist, für die Betreiber wie Fluch und Segen zugleich: Mehr Taten werden bekannt und aufgedeckt - wodurch wiederum das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste leidet. Da die Kameraüberwachung offenbar vor allem im betreffenden Deliktsbereich keine abschreckende Wirkung zeitigt, trägt sie langfristig zu einer Steigerung der Fallzahlen bei.

Auch die Hochbahn, Betreiberin der U-Bahnen und Busse, weist darauf hin, dass 97 Prozent der Gewaltdelikte in Hamburg eben nicht im Bereich der eigenen Zuständigkeit geschehen würden. 281 Gewaltdelikte wurden im Jahr 2009 im Bereich der U-Bahnen und Busse gezählt. 90 Prozent davon ereigneten sich an Haltestellen. Fast ein Drittel der Körperverletzungstaten geschah nachts zwischen 0 und 6 Uhr.

Die Bahn, so heißt es in einer erklärenden Veröffentlichung der DB Kommunikation, sei Teil des öffentlichen Raums und damit Spiegelbild der Gesellschaft und ihrer Schattenseiten. "Wo tagsüber Manager in Anzügen auf dem Bahnsteig stehen, kann sich abends schnell ein Gefühl der Unsicherheit breitmachen. Kriminologen kennen dieses Phänomen als Kriminalitätsfurcht-Paradox. Parkanlagen, Parkhäuser oder eben auch Bahnhöfe sind mit Anbruch der Nacht klassische Angsträume, die nur schwer von ihrem Stigma befreit werden können."

Artur G. fuhr bislang angstfrei mit der Bahn. Wie so viele andere wurde auch die Tat an ihm auf Videokameras festgehalten. Man sieht, wie drei junge Südländer auf einen am Boden liegenden Mann eintreten. Offenbar gibt es auch Bilder, die sie am Hauptbahnhof beim Besteigen der S 3 zeigen. Dort war auch Artur G. mit seiner Lebensgefährtin in die S 3 eingestiegen.

Die Attacke der jungen Männer hat ihn aus zwei Gründen überrascht: "Ich war deutlich größer als die, die gingen mir bis zur Nase sozusagen. Aber es ging sehr schnell, dass ich auf dem Boden lag, und von da an habe ich nichts mehr mitbekommen. Ich dachte, wir könnten diese Sache vielleicht mit Vernunft klären - aber nicht mit Gewalt. Ich war in diesem Moment enttäuscht, dass die Worte nicht ausgereicht haben, um diese Leute zur Besinnung zu bringen."