Die Tochter von Wolf Biermann spricht über ihre Kindheit, “Revoluzze im Kleinen“ und die Selbstfindung in dem Werk ihres Vaters.

St. Pauli. Mehr Wolf geht nun wirklich nicht. Auf ihrem Regenschirm ist er drauf. Rein symbolisch. Ein Wolf für den Liedermacher und Sänger Wolf Biermann, ihren Vater, dessen kaum bekannte Kneipen- und Liebeslieder seine Tochter Marie Biermann bei ihrem ersten Soloabend singen wird. Lieder, tief verankert in ihrer Seele, wie sie sagt. Von Kindesbeinen an vertraut.

Schon als Einjährige hat sie das erste Lied mit ihm aufgenommen. "Frère Jacques" als Begleitmusik zu seinem ihr gewidmeten Lied "Willkommensgruß für Marie". Das alles sprudelt nur so aus ihr heraus. Draußen im Regen. Und später auch drinnen im Mooi an der Karolinenstraße. Marie Biermann ist eine unbekümmerte Mischung aus flotten Sprüchen, tiefsten Seelenqualen, dramaturgisch geschickt eingebauten Atempausen und Kochrezepten.

Wir haken noch schnell die Frage ab, ob warme Pfefferminzteebeutel wohl besser seien gegen nachtschwere Augen als kühle Gurkenscheiben. Das zumindest behaupte ihre Förderin und Lehrerin, die Schauspielerin und Sängerin Eva-Maria Hagen, Mutter der Punk- und Rockröhre Nina Hagen und Großmutter von Cosma Shiva Hagen, in deren Kunstkneipe Sichtbar am Fischmarkt beide Seite an Seite aufgetreten sind. Marie mit der wunderschönen Stimme gehöre einfach zur Familie, schreibt Cosma Shiva Hagen auf Facebook.

Was für ein Verwirrspiel. Aber es stimme, sagt sie lachend. Denn irgendwie ist Marie Biermann das ja tatsächlich. Aufgewachsen in diesem großen und warmen Chaos am Hohenzollernring voller Frauen und Kinder verschiedenster Liebesbeziehungen. Ein offenes Haus ohne Intimität, das sie genossen habe, bis es ihr über den Kopf wuchs. Marie Biermann, die Tochter Tine Raben-Biermanns, Wolf Biermanns dritter großer Liebe. Als Marie drei ist, trennen sich ihre Eltern. Als sie fünf ist, gibt es zwei getrennte Haushalte. Marie bleibt bei ihrem Vater. In der Pubertät zieht sie zu ihrer Mutter nach St. Pauli, fühlt sich dort heimisch, liebt das Kiezmilieu, das ständig an der Kante entlangschrammende Leben. Kurz vor dem Abitur zieht sie auf der Suche nach festen Strukturen, sauberen Straßen und reinen Fassaden nach Eppendorf. Für kurze Zeit nur in eine Wohnung mit Blick auf die Pathologie der Uniklinik. Sie habe eine ständige Aufregung, eine Rastlosigkeit in sich, sagt sie, sei eine Achterbahnfahrerin durchs Leben, keine gemächliche Paddlerin.

Und dann kehren wir zurück zu "dem Wolf". Ihrem schärfsten und ehrlichsten Kritiker, der auch schon mal sagte: "Mein Goldfasan, du klingst wie eine Nachtigall" - und sie, genau wie ihre Mutter, darin bestärkt habe, das zu tun, woran ihr Herz hängt. Und das seien nun mal eigene Interpretationen seiner Lieder. Seit ihrem Auftritt vor vier Jahren bei der NDR-Hommage zu seinem 70. Geburtstag habe sie mit sich gerungen. Fühlte sich noch nicht hineingewachsen. Seine politischen Gesänge seien ihr ohnehin fremd. Diese Ost-West-Zerrissenheit gehöre allein ihren Eltern. Sie habe keine Drachen zu töten wie ihr Vater, sagt sie entschieden.

Sie mache "Revoluzze" im Kleinen, auf der Straße gegen Ikea in Altona. Sie müsse sich in ihrem eigenen Leben zurechtfinden. Wolf Biermanns Hafen- und Liebeslieder voller Sehnsucht und Melancholie, die könne sie singen. Weil sie eben von dem Einzigen handeln, nach dem sich jeder sehne: der Liebe, dem sicheren Hafen zum Anlegen, der großen Angst vor der Einsamkeit.

Plötzlich landet Marie Biermann bei ihrem Jahr als 16-Jährige in den USA. Das vollkommen andere Chaos in einer Familie im Mittleren Westen. Die Eltern Alkoholiker, der eine Sohn total durchgeknallt. Bei Kurztrips nach Los Angeles findet sie Freunde und - "jetzt kommt's", sagt sie hochdramatisch - wird blond. Von der Brünetten zur Blondine. Ein toller Rollentausch. Ihre Angst vorm 30 - wie weggeblasen.

Und dann zieht sie ihr Notebook aus der Tasche, packt eine CD rein, ihr Kinderstimmchen ist plötzlich zu hören. Neben der ihres Vaters. "Frère Jacques", kreischt sie aufgeregt und er brummt besänftigend: "Ja, ja, hm, hm." Und stimmt dann an: "Wir müssen vor Hoffnung verrückt sein, Marie ..." Mehr Wolf geht nun wirklich nicht. Nicht mit Marie, seiner Tochter, die sich nie von ihm freisingen wollte, sondern in seinen Liebesliedern sich selbst gefunden hat. Oder wenigstens daran glaubt.