Forscher erklären die neue Protestbewegung: “Demonstrationen sind salonfähig“. 10.000 Bürger gegen den Abriss der Elbtreppen-Häuser.

Hamburg. Karsten Schnoor trägt seine grauen Haare zum Zopf gebunden; er ist Musiker, baut Gitarren und hat gestern wohl ein wenig Hamburger Geschichte geschrieben. Seit zehn Jahren streiten er und 25 andere Mieter mit der städtischen Saga/GWG um den Erhalt ihre alten Häuser an der Elbtreppe in Neumühlen. Zunächst ohne Bürgerbegehren. "Wir paar Hanselns können das nicht stemmen, dachten wir", sagt er. Vor sechs Wochen gingen sie dennoch auf die Straße. Bis gestern hatten 10.000 Menschen aus Altona schon die ausgelegten Listen unterschrieben. Ein Rekord in der gerade mal zwölfjährigen Geschichte der Hamburger Bürgerbegehren. Noch nie haben in Hamburg so viele Menschen in so kurzer Zeit ein solches Begehren unterstützt. "Das ging durch alle Schichten, auch vornehme ältere Damen haben sich bei mir gemeldet, konservative Wähler eigentlich", sagt Schnoor. Aber ist ein solches breites Protestbündnis tatsächlich nur wegen der sechs zwar historischen, aber auch eher unscheinbaren Häuser an der Elbe zustande gekommen? 10 000 Unterstützer für 26 Mieter?

Wohl kaum. Das Elbtreppen-Bürgerbehren ist das mittlerweile 18. allein im Bezirk Altona. Hamburgweit sind es schon 77. Immer häufiger wählen Bürger dieses Mittel, um Projekte zu stoppen - oder wie im Falle der Ikea-Ansiedelung in Altona auch zu unterstützen. Künstler besetzen erfolgreich das historische Gängeviertel und bekommen plötzlich wie bei den Elbtreppenhäusern auch Beifall von gutbürgerlicher Seite. Bürger verhinderten mit einer Volksinitiative eine Schulreform - obwohl sich alle Parteien dafür aussprachen. Die Isebek-Initiative verhindert ein neues Bürohaus. Große Demos gegen teure Mieten werden angekündigt.

Es herrscht eine Art Grundgrummeln gegen die bisherige Art der Politikentscheidung, so scheint es. Auch Schnoor und seine Mitstreiter haben das gemerkt. "Die Leute haben genug von Glas und Stahl und Abriss, die sind total unzufrieden, und wir sind da wohl zum Symbol geworden", vermutet er.

Doch woher kommt diese Unzufriedenheit und vor allem wohin wird sie führen? Schon jetzt gibt es Stimmen in Hamburg, die wollen Bürgerbegehren in den Bezirken am liebsten wieder abgeschafft sehen. "Bürgerbehren behindern immer häufiger den dringend benötigten Wohnungsbau in Hamburg", klagt Andreas Ibel vom Hamburger Landesverband Freier Immobilienunternehmen. Und der neue Wohnungsbaukoordinator Hamburgs, Michael Sachs, zweifelt mittlerweile sogar daran, ob die Stadt noch regierungsfähig bleiben kann. Altbürgermeister Henning Voscherau (SPD) forderte daher in einem Interview mit der "Welt" höhere Hürden bei der Volksgesetzgebung. Die erforderlichen Unterschriften könne man "in jeder Lotto-Annahmestelle" zusammenbekommen, so Voscherau.

Doch Bürgerbegehren einfach wieder abschaffen - das traut sich die Politik nicht - obwohl sie es wohl am liebsten würde: "Ich werde mir nicht die Finger verbrennen", sagt SPD-Fraktionschef Michael Neumann. Die Verantwortung für die hohe Zahl der Bürgerbegehren liege bei den Hamburgern selbst. Der CDU-Verfassungsexperte Robert Heinemann plädiert immerhin vorsichtig dafür, über Mindestbeteiligungen bei Bürgerentscheiden wenigstens "nachzudenken". Ansonsten ließe sich nicht verhindern, "dass Bürgerentscheide genutzt werden, um Partikularinteressen durchzusetzen", sagt er und benutzt damit ein Wort, dass von der Politik immer wieder als Argument gegen Bürgerentscheide angeführt wird. Partikularinteressen gegen Allgemeinwohl - ist das wirklich die Front?

Der Hamburger Stadtentwicklungs-Staatsrat Hugo Winters (GAL) sieht das differenzierter. "Es gibt heute zunächst bei jeder Planung ein Urmisstrauen", sagt er. "Die Hamburger nehmen heute generell stärker wahr, dass die Stadt ja sich selbst und den Leuten gehört."

Und die Leute nutzten offenbar verstärkt neue Kommunikationsmittel. Das zumindest ist die These des Hamburger Trendforschers Peter Wippermann. Die Zahl der Bürgerbegehren werde daher eher noch zunehmen, glaubt er. "Je mehr das Internet auf unser Leben Einfluss hat, desto mehr werden sich die Leute vernetzen und damit die Möglichkeit haben, Bewegungen schneller und effizienter zu organisieren", sagt er. Noch vor wenigen Jahren habe man Flugblätter verteilen und die lokale Presse mobilisieren müssen. "Das funktioniert heute über Twitter und Facebook." Und damit funktioniere das lange gelebte Prinzip der Politik auch nicht mehr, "nach einer Wahl vier Jahre lang zu arbeiten, ohne auf die Meinung der Bürger zu reagieren".

Das Interessante, so Wippermann, seien aber auch die Bürger, die sich an den aktuellen Begehren beteiligten. "Wenn man sich die Bilder vom Schulentscheid in Hamburg ansieht, stellt man fest, dass die bürgerliche Mitte auf die Straße geht", so Wippermann. Denen gehe es vor allem um einen Einfluss auf die Zukunftsgestaltung. "Die bisher schweigende Mehrheit äußert sich erst jetzt richtig zu Wort."

Oder um es mit den Worten des Protestforschers Dieter Rucht zu sagen: "Demonstrationen sind einfach salonfähig geworden." Demos hängt längst nicht mehr das Krawallmacher-Image nach, sagt der Professor vom Wissenschaftszentrum Berlin. "Demonstrationen werden von der Öffentlichkeit mittlerweile als etwas Normales oder gar Positives angesehen; die Akteure werden nicht mehr als Querulanten abgestempelt", sagt Rucht. "Es ist nichts Besonderes, wenn sich die Zahnärzte, Milchbauern oder Künstler für etwas einsetzen." Oder ältere Damen Künstler wie Karsten Schnoor unterstützen.

Besonders in einer Stadt wie Hamburg, die ein breites, aktives Bürgertum besitzt, gebe es großes Potenzial für "klugen Protest", sagt Rucht. Auffällig sei, dass sich die Bürger besonders bei direkter Betroffenheit gegen die Entscheidungen der Politik auflehnten. Rucht schätzt diese Handlungen jedoch nicht als Politikverdrossenheit ein, sondern sieht darin eher das Gegenteil. "Es zeigt eher, dass die Bürger sehr an der Politik interessiert sind. Es sind die Entscheider, mit denen sie nicht zufrieden sind, von denen sie sich nicht in angemessener Weise vertreten fühlen."

Vielleicht muss es daher neue Formen der Stadtplanung geben. Vielleicht sind intensive Kommunikation und Moderation dann der Königsweg, um ohne langwierige Bürgerbegehren zu Entscheidungen zu kommen: So flammte kürzlich heftiger Protest gegen hohe Bürobauten im Katharinenquartier in der Altstadt auf, ein neuer Brennpunkt des Streits schien sich dort abzuzeichnen. Und wieder war es eine breite Front aus dem Viertel, die sich gegen vermeintliche Mauschelei zwischen Investoren und Politik wehrte. Vor wenigen Tagen gelang Oberbaudirektor Jörn Walter als Moderator aber nach stundenlangen Verhandlungsrunden ein Kompromiss - obwohl ein Bürgerbegehren mit besten Erfolgsaussichten schon lange vorbereitet war. Dazu kommt es nun nicht mehr. "Das ist ein Ablauf, wie man sich ihn wünscht", sagt Staatsrat Winters.

Und vielleicht ist es auch ein Modell für Bürgerbegehren-Initiator Karsten Schnoor in Altona, für die Saga und die alten Häuser an der Elbtreppe.