Viele Anwohner haben genug von der Gewalt. Die ersten schreiten gegen Randalierer ein

Schanzenviertel. Es sind kräftige, blaue und rote Kreidestriche, die einen neuen Anspruch zu markieren scheinen: "Für Anwohner" hat jemand auf dem Bürgersteig vor dem Haus Schulterblatt 59 geschrieben und schon einmal klargemacht, für wen hier das Fest und die Flohmarktstände gedacht sind. "Die kommen sonst schon nachts aus Pinneberg, um ihre Tapeziertische vor unserem Haus aufzubauen", sagt Alexander Leinhos, ein 35-jähriger Familienvater, der hier mit Frau und kleiner Tochter ganz oben in einer Dachwohnung lebt. Wie alle Bewohner aus dem Haus hat er einen kleinen Flohmarktstand aufgebaut. Einer von gut 550, die das Schanzenviertel an diesem Sonnabend in eine bunte Basarmeile verwandelt.

Die Sonne scheint, dicht gedrängt flanieren die Besucher, probieren Falafel, Bratwurst oder Veganer-Döner. Fliegende Händler verkaufen Bier aus Kühltaschen oder schnippeln Limetten auf wackeligen Campingtischen für Cocktails. Techno-Beats wehen von irgendwo her. Ein fröhliches Stadtteilfest mit gut 9000 Besuchern - aber doch noch immer eines mit politischem Unterton: Gegen Atomkraft und die "herrschende Klasse" geht es auf Plakaten an der Bühne. Der Slogan vom "Recht auf Stadt" und die Diskussion um Verdrängung und teure Mieten ist Thema an Infoständen. Die Stahlplatten, mit denen die Deutsche Bank ihre Schaufenster vor der erwarteten Randale geschützt hat, sind mit Zettelparolen zugepflastert. Mit kleinen, roten Pünktchen kann man Zustimmung signalisieren. "HafenCity als Arschlochmagnet erhalten", hat die meisten.

"Uns sind politische Aussagen wichtig, auch bei einem solchen Fest", sagt die Musikerin Catharina Boutari. Die 35-Jährige lebt seit 15 Jahren im Viertel, jetzt mit kleinem Sohn und Ehemann. Doch es habe sich auch etwas verändert, sagt sie. Politische Aussagen, gerade, wenn es um die Verdrängung von Mietern geht, müssen sein, sagt sie. Aber nicht die Gewalt, vor allem nicht die Gewalt, die von außen in das Viertel hineingetragen wird. "Wir sind es leid", sagt sie. Zum ersten Mal ist die Schanzenbewohnerin daher aktiv gegen die Randale geworden. Am Morgen hatte sie ein großes Bettlaken aus dem Fenster gehängt: Friedenszeichen und die eindeutige Aufforderung "Geht woanders spielen", steht darauf. Mit großen Augen hatte ihr dreijähriger Sohn sie angeschaut, als se mit dem Laken hantierte. "Mama was machst du da?", hatte er gefragt. "Die sollen sich nicht mehr zanken", hat sie versucht zu erklären. Das ewige Ritual aus Steineschmeißen und Straßenschlachten mit der Polizei, "dieses Katz-und-Maus-Spielen", wie sie sagt, wolle man nicht mehr sehen.

Der Bettlaken-Protest der Künstlerin ist nicht die einzige Anwohner-Aktion an diesem Tag. Viele Bars und Restaurants haben gar nicht geöffnet - obwohl der Tag Umsatzrekorde bringen könnte. "Geschlossen gegen Gewalt", signalisieren doppeldeutig Plakate an ihren Türen.

Doch noch ist von Krawall, Randale und Straßenschlachten nichts zu spüren an diesem Nachmittag. Zwar sammeln sich gut 500 Meter weiter auf dem Heiligengeistfeld Tausende Polizisten, vor Ort sind jedoch nur zwei Streifenbeamte zu sehen. Die Polizeipräsenz scheint fast geringer als beim parallelen Alstervergnügen. Und auch die von Linksautonomen besetzte Rote Flora präsentiert sich als ein Hort gepflegter Nachbarschaft. Altaktivisten bieten für Besuchergruppen Führungen durch das dunkle Gebäude an, erzählen von der Historie. Doch auf den Flohmarktständen vor dem besetzten Haus gibt es auch andere Botschaften. Zettel mit Stadtplänen wie aus einem Reiseführer für Randaletouristen erklären die Lage angreifbarer Objekte. Banken oder teure Modeläden sind da verzeichnet. Für den "gepflegten Krawall".

Die fröhliche Ruhe des Festes kann eben auch trügerisch sein, weiß Barbara Stenzel. Die 59-Jährige arbeitet seit 1972 im Viertel, leitet mit ihrem Mann eine Konditorei. Immer war hier Veränderung, sagt sie. In den 70er-Jahren wohnten dort noch viele Familien mit Kindern, dann wurden Drogenspritzen auf Spielplätzen gefunden. Die Familien zogen weg, Studenten und WGs nach. Zuletzt kamen immer mehr Singles, die Mieten stiegen, und kleine Geschäfte mussten aufgeben. "Doch bunt und lebenswert ist es noch immer", sagt sie und rückt die Kisten mit gezuckerten Berlinern zurecht, die sie hier auf dem Flohmarkt verkauft. Nachbarn schlendern vorbei, man plaudert. "Eine wundervolle Stimmung eigentlich", sagt sie. "Ich hoffe, dass es so bleibt, glaube es aber nicht", sagt Barbara Stenzel.

Gegen 23 Uhr fliegen die ersten Steine, brennen Mülleimer. "Das übliche Programm", sagt die Musikerin Boutari später. Doch der Krawall sei diesmal erstmalig spürbar weniger gewesen. Weit weniger Schaulustige auf der Straße, beobachteten die Anwohner. Die schützende Masse fehlte. Ganz neue Szenen ließ sich Barbara Stenzel von Nachbarn schildern: "Flaschenwerfern wurden die Flaschen von Passanten aus den Händen gerissen." Anwohner löschten Feuer. "Ich hoffe, es gibt jetzt eine Wende in der Gewaltspirale", sagt Musikerin Boutari.

Die Anwohner, so sieht es aus, holen sich ihre Straße zurück. Und das nicht nur mit Kreidestrichen für Flohmarktstände.