Die Initiative Mundraub markiert herrenloses Obst auf einer Deutschlandkarte. 22 Stellen in Hamburg laden zur Selbstbedienung ein.

Hamburg. Plötzlich waren da all diese Früchte. Wie im Schlaraffenland. Äpfel, Birnen und Mirabellen hingen zu Hunderten am Ufer. Die satt beladenen Äste ragten bis in den Flusslauf der Unstrut. Die Berliner Katharina Frosch und Kai Gildhorn mussten bei ihrer Paddeltour nur zugreifen. Die Früchte gehörten niemandem, also labten sie sich. Doch irgendwann begannen beide, den Reichtum zu hinterfragen: "Wer kümmert sich um die wild wachsende Pracht? Werden die Äpfel überhaupt geerntet? Und wenn nein: warum nicht?"

Dieser Spätsommertag war die Geburtsstunde der Initiative Mundraub. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, herrenloses Obst nicht länger verrotten zu lassen, sondern für jedermann nutzbar zu machen. Mit drei weiteren Mitstreitern hob das Pärchen deshalb die Internetseite www.mundraub.org aus der Taufe, wo frei stehende Obstbäume gelistet werden können. Immer mehr Nutzer setzen seitdem kleine Kirschen- oder Apfelpiktogramme auf eine virtuelle Deutschlandkarte und markieren somit Obst-, Kräuter- oder Beerenbestände. "Mehr als 1000 Stellen sind in ganz Deutschland bereits registriert", sagt Mirco Meyer, einer der fünf ehrenamtlichen Weltverbesserer.

Auch in Hamburg ist Mundrauben - seit 1975 kein Straftatbestand mehr - möglich. Aktuell sind 22 Stellen nördlich und südlich der Elbe vermerkt, an denen mitunter der Apfel kostenlos vom Stamm fällt. Etwa im Tidehafen (Dessauer Straße), wo Äpfel bei Flut vom Boot aus gut zu erreichen seien. Ein anderer Eintrag auf der Internetseite preist "leckere gelbe Kirschen" auf dem Unicampus vor dem Philosophen-Turm an. Und entlang der Notkestraße in Bahrenfeld wachsen Walnussbäume, die im Herbst abgeerntet werden können. Zudem gibt es eine schmackhafte herrenlose Brombeerkolonie am Harburger Bahnhof oder Pflaumen und Mirabellen rund um den Eichbaumsee (Moorfleeter Hauptdeich).

Hier finden Sie das kostenlose Obst

Obwohl der kämpferisch anmutende Leitspruch "Freies Obst für freie Bürger" etwas anderes verheißt, ist das Kernziel der Mundraub-Bewegung nicht die Legitimation der Selbstbedienung. "Die Leute sollen nicht losziehen und alles abrupfen oder sogar stehlen", sagt Mirco Meyer. Vielmehr wollen die Initiatoren aufzeigen, welche schlummernden Nahrungsressourcen das Land hat - der urbane Raum einer Großstadt eingeschlossen. "Es gibt so viele brachliegende Privatgärten. So viele Straßenbäume mit Obst. Unser Ziel ist, dass Leute die Augen aufmachen, ihre Umwelt wahrnehmen. Denn wenn diese Quellen nicht genutzt werden, geht etwas Ursprüngliches in Deutschland verloren." So gelte es unter anderem, rund 1000 Apfelsorten zu bewahren. Und er hofft, vor allem Ältere, die nicht mehr selbst ihre Gartenbäume abernten können, für den legalen Mundraub gewinnen zu können.

Dabei sei den Betreibern bewusst, dass fast jeder Baum - ob nun vergessen an der Straße oder verlassen im Garten - einen Besitzer hat. Deshalb werden die Einträge geprüft, Nutzer sollen nur mit Einverständnis des Bundes, der Kommune oder einer Privatperson mundrauben, und zwar maßvoll.

Die Stadt Hamburg zeigt sich bei ihrem Eigentum entgegenkommend, wie Volker Dumann von der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) sagt: "Wir ernten nicht selbst. Baumobst auf öffentlichem Grund ist demnach Allgemeingut." Allerdings habe die Stadt unter ihren 243 000 Straßenbäumen nur geringe Obstbestände. Auch unter den Millionen Stadtbäumen seien ihm nur wenige nutzbare bekannt. "Es gibt eine Handvoll im Jenischpark, dazu noch vereinzelte im Stadtgebiet", sagt Dumann. Anders sieht es im Berliner und Brandenburger Raum aus. Dort häufen sich die Einträge auf mundraub. org. Zum einen, weil die Initiative in Berlin bereits hohen Bekanntheitsgrad genießt, zum anderen, weil im 18. Jahrhundert zahlreiche Obstbaumalleen angelegt wurden, um marschierenden Soldaten Schatten und freie Kost zu bieten. Unterdessen sei brachliegender Obstbestand heute ein deutschlandweites Phänomen, weshalb die Idee der Mundräuber sogar dem Deutschen Rat für Nachhaltige Entwicklung imponierte. Das Gremium aus Wissenschaftlern und Politikern - 2001 von der Bundesregierung gegründet - würdigte die Initiative mit einer Auszeichnung.

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Eigentlich, sagt Mirco Meyer, sollte die Berliner Non-Profit-Plattform keine große Sache werden. "Wir sind zwar größenwahnsinnig und wollen, dass möglichst viele Menschen verantwortungsvoll mit der Kulturlandschaft umgehen. Aber nach ersten Medienberichten hätte niemand von uns mit Besucherzahlen von 19 000 pro Tag gerechnet. Zumal der Server nur für 30 zeitgleiche Zugriffe ausgelegt ist."

Deshalb sei sein Wunsch nicht der Besuch der Internetseite. Vielmehr sollten Hamburger den Großstadt-Dschungel ausnahmsweise nicht nur nach hippen Bars absuchen, sondern nach nutzbaren Obstbäumen.