In Getränken und Konfitüren findet sich die Süße ohne Kalorien, bereits. Marktanteil dürfte noch kräftig zulegen. Doch es gibt auch Probleme.

Hamburg. Stevia ist zwar noch nicht in aller Munde, aber auf dem Weg dorthin. Die natürlich gewonnene Süße taucht in immer mehr Lebensmitteln auf - in Limonade, Joghurt, Brotaufstrichen und Süßigkeiten. Hinter der auf den Verpackungen angepriesenen Stevia-Süße stehen Steviolglykoside, die aus der südamerikanischen Pflanze Stevia hergestellt werden und erstaunliche Eigenschaften haben: Sie schmecken bis zu 300-mal so süß wie Zucker, haben aber keine Kalorien und verursachen darüber hinaus keine Karies.

Die neue natürliche Süße ist seit Dezember 2011 auch in Deutschland zur Verwendung in Lebensmitteln zugelassen. "Stevia ist jetzt überall erlaubt, wo Süßungsmittel eingesetzt werden können", sagte eine Sprecherin vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV). Die gesundheitliche Unbedenklichkeit sei erwiesen.

Die Zuckerhersteller bangen bereits um ihr Milliardengeschäft, und immer mehr Nahrungsmittelproduzenten prüfen den Einsatz von Stevia. Bei Google finden sich unter dem Suchbegriff Stevia bereits mehr als zwei Millionen Einträge. Verbirgt sich hinter der Pflanze ein Wundermittel im Kampf gegen Karies und Übergewicht?

Einer der Pioniere im Markt, der an den Erfolg von Stevia glaubt, kommt aus Hamburg: Der Getränkehersteller Fritz-Kola hat schon seit Dezember vergangenen Jahres eine Fritz-Kola Stevia im Angebot, auf der Flasche sind Steviolglykoside als Süßstoff angegeben. Das Produkt, das in gewohnt witziger Fritz-Kola-Manier mit dem Spruch "Die fetten Jahre sind vorbei" beworben wird, besteht den Geschmackstest: Die Cola ist süß und kommt ohne den künstlichen Beigeschmack aus, den man von Lightprodukten kennt.

Insbesondere im Segment der alkoholfreien Getränke erwarten Lebensmittelexperten einen schnellen Durchbruch für Stevia. Auch Branchenprimus Coca-Cola verwendet den Stoff in den USA bereits für seine Sprite-Green-Limonade. In Nordamerika sind Stevia-Lebensmittel schon längere Zeit im Markt, hier hat sich der Anteil von neuen mit Stevia gesüßten Produkten im vergangenen Jahr verdoppelt. In Japan und anderen asiatischen Ländern ist Stevia sogar bereits seit mehr als 25 Jahren im Einsatz und erreicht einen Anteil von rund 40 Prozent bei den Süßungsmitteln.

Längst erproben aber auch in Deutschland nicht mehr nur kleinere Pioniere wie Fritz-Kola den Einsatz des pflanzlichen Süßstoffs. Auch aus der Hamburger Zentrale des größten Lebensmittelhändlers Edeka kommen positive Signale: "Derzeit prüfen wir den Einsatz von Stevia für unsere Eigenmarken", sagte eine Unternehmenssprecherin dem Abendblatt. Edeka lässt süße Produkte wie Schokolade, Bonbons oder Yoghurt unter dem Dach seiner Handelsmarke für sich herstellen. Zurückhaltender äußert sich der Rewe-Konzern: "Derzeit beobachtet die Rewe Group in Deutschland noch die weitere Entwicklung von Stevia", sagte Unternehmenssprecher Andreas Krämer.

Zentis ist der erste große Markenanbieter von Konfitüren, der mit Stevia süßt. Das Unternehmen wirbt mit einem geringeren Kaloriengehalt seiner neuen Marke Leichte Früchte. Auch Marktführer Schwartau experimentiert mit der Pflanze: "Wir beschäftigen uns intensiv mit Stevia. Es wird sicherlich einen Teil der künstlichen Süßstoffe ersetzen, jedoch nicht in allen Produktkategorien Einzug finden", sagt Sebastian Portius, Geschäftsführer für Forschung und Entwicklung. Die Kunst werde es sein, eine richtige Balance zwischen den verschiedenen Steviolglykosiden und den anderen Rezeptzutaten zu finden.

"Wir prüfen den Einsatz von Stevia", bestätigt auch eine Sprecherin des Lebensmittelkonzerns Nestlé, der in Hamburg zum Beispiel Smarties und den Schokoriegel Kitkat herstellt. Bei Cerealien stehe der Hersteller aber beispielsweise vor der Herausforderung, dass Zucker nicht nur süße, sondern auch dafür sorge, dass die Frühstücksflocke knusprig schmeckt.

Dieses Problem der Lebensmittelzusammensetzung haben auch Kuchenhersteller. Sie sind auf die volumengebende Eigenschaft von Zucker angewiesen und werden Stevia zunächst wohl nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang einsetzen können. Skepsis herrscht zudem bei Eisbär Eis in Apensen bei Buxtehude. Dort heißt es, die Nachfrage aus dem Handel sei noch sehr begrenzt. Eisbär stellt vorwiegend Frucht- und Milcheis unter fremdem Namen für Discounter her.

Die Herausforderungen in der Produktion sind nicht die einzige Hürde für den Einsatz von Stevia. Die Frage ist auch, inwieweit das Produkt beim Preis mit dem Zucker mithalten kann. Derzeit fällt der Preis von Steviolglykosiden stark. Experten gehen davon aus, dass der hauptsächlich in China hergestellte Rohstoff bald günstiger sein dürfte als Zucker. Dazu kommt, dass die deutsche Industrie über einen Zuckerengpass und steigende Kosten klagt.

Selbst wenn Zucker bei Endverbrauchern kein großes Loch in die Haushaltskasse reißt, auch sie stehen derzeit in den Supermärkten vor der Entscheidung, ob sie mit Zucker oder Stevia-Produkten süßen wollen. Reines Stevia findet sich unter anderem im Sortiment von Canderel und Natreen in Form von Streusüße und Tabs. In den USA hat Tafelsüße auf Steviolglykosid-Basis einen Marktanteil von rund elf Prozent. Das Potenzial ist also groß, immerhin verbrauchtjeder EU-Bürger im Schnitt 40 Kilo Zucker im Jahr.

Dass viele Kunden dem klassischen weißen Zucker gegenüber immer kritischer werden, weiß auch Tobias Elger, Inhaber des Geschäfts Zahnfreundchen in Eimsbüttel. Er hat sich auf Süßigkeiten spezialisiert, die keine Karies verursachen. Seine Zahnfreundchen-Schokolade, die es auch in einigen Edeka-Märkten Hamburgs gibt, bekommt ihre Süße von Isomaltulose. "Dieser Stoff besitzt keine kariösen Eigenschaften", sagt Elger.

Auch der Einsatz von Stevia in Schokolade sei denkbar, aber es müsse gelingen, aus der südamerikanischen Wunderpflanze einen Stoff herzustellen, der beim Schokoladenesser das gleiche Mundgefühl erzeuge, heißt es beim Hamburger Kakao-Kontor, dem Hersteller der Zahnfreundchen-Tafeln. Die Lebensmittelchemiker werden wohl noch eine Menge Schokolade, Marmelade und Frühstücksflocken probieren müssen, bevor Stevia wirklich in aller Munde ist.