Deutschlands Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki feiert seinen 90. Geburtstag. Hellmuth Karasek würdigt seinen langjährigen Weggefährten.

Hamburg. Anfang der Siebzigerjahre war ich Dozent an der Summer School in Middlebury, im schönen Vermont, in einer traumhaften Landschaftskulisse. Man zeigte mir einen Panoramablick, auf den man stolz war. Rechts ergoss sich aus den Vermonter Bergen ein Wasserfall in einen See, links öffnete sich das Tal neben den Bergen, die im Winter ein bekanntes Ostküsten-Skigebiet waren. Ich war sehr beeindruckt, als mir die Professoren, die mich herumgeführt hatten, erzählten, dass im Jahr zuvor Marcel Reich-Ranicki den gleichen Blick genossen habe. Und dann sagten sie, er habe sich umgesehen, beifällig genickt, dann kurz das Gesicht verzogen und gesagt: "Ich hätte den Wasserfall auf die linke Seite verlegt." Sie kommentierten das mit einem feinen Lächeln: Nicht einmal die Schöpfung sei vor dem gestrengen Kritikerblick Marcel Reich-Ranickis sicher gewesen.

Ich habe ihn später auf diese bereits ein Jahr später zur Legende gewordene Episode angesprochen. Er sah mich leicht missmutig an, lächelte dann und sagte: "Nun ja, ich wollte meine Rührung verbergen und nicht in das Pathos der Lokalpatrioten fallen." Es ist eine Geschichte, die den Kritiker Reich-Ranicki gut kennzeichnet. MRR ist auch in dieser Hinsicht ein Nachfolger Alfred Kerrs, den er immer schon liebte und bewunderte. Und von Kerr hat er wohl auch den ganzen Kritiker-Stolz übernommen, der den großen Berliner Theaterkritiker einmal nach der Uraufführung von einem schwächlichen Theaterstück schreiben und sagen ließ, das vergängliche Werk sei nur dazu aufgeführt worden, ihn zu einer unvergänglichen Kritik anzuspornen.

Reich sagt es vielleicht bescheidener, meint es aber von Zeit zu Zeit ebenso, wie sein berühmt-berüchtigter Kritikenband "Lauter Verrisse" bezeugt. Er befindet sich da in einer guten Genealogie, denn der erste große Kritiker Deutschlands, Lessing, schrieb ja sein größtes Werk "Nathan der Weise", mitsamt der großartigen Ringparabel von dem edlen toleranten Wettstreit der drei monotheistischen Religionen, nur zu dem Beruf, um sich mit seinem Gegner, dem Hauptpastor Goeze, jenseits der akademischen Disputation auseinanderzusetzen, indem er das Katheder mit der Schaubühne vertauschte. Und Lessings bekanntester Verriss, der Anfang seiner Gottsched-Polemik, korrespondiert geradezu nicht mit der Selbstherrlichkeit und auch nicht der Selbstgerechtigkeit, sondern dem stolzen Selbstbewusstsein des Kritikers Reich-Ranicki: "Niemand (...) wird leugnen, dass die Deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe. Ich bin dieser Niemand, ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, dass sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeintlichen Verbesserungen betreffen entweder entbehrliche Kleinigkeiten oder sind wahre Verschlimmerungen."

Reich-Ranicki ist dieser Niemand, und von Alfred Kerr unterscheidet ihn ein Medium, das aus großen Kritikern (wie aus großen Tennisspielern oder Fußballstars) auch Pop-Helden macht, sie noch einmal vergrößert. Auch dafür hat der Kritiker ein großartiges Beispiel geliefert. Als die erste Sendung des Literarischen Quartetts im März 1988 begann, leitete sie Marcel Reich-Ranicki mit den folgenden Worten ein: "Meine Damen und Herren, dies ist keine Talkshow. Was wir Ihnen zu bieten haben, ist nichts anderes als Worte, Worte, Worte, 75 Minuten lang Worte, und wenn es gut geht - es ist ein Ziel, auf das Innigste zu wünschen -, vielleicht auch Gedanken. Wir werden über Bücher sprechen und über Schriftsteller: also nichts anderes als Literatur. Es wird wahrscheinlich zu einem Streitgespräch kommen, das wird unvermeidbar sein, und das wollen wir auch gar nicht vermeiden. Über Literatur werden wir reden, und die Literaten werden sich vielleicht freuen oder ärgern. Aber diese Sendung ist nicht nur für Literaten bestimmt, auch für Literaten, aber vor allem für die Freunde der Literatur, für alle Freunde der Literatur. Die freilich, die keine Freunde der Literatur sind, die haben jetzt den falschen Kanal gewählt, die könnten sich dann in dem Folgenden langweilen, die anderen hoffentlich nicht. Also 75 Minuten über die Literatur heute. Vier Personen nehmen daran teil, es heißt ja, ein Quartett sei es."

Das wird nichts, dachten damals viele Leute, wer wird da schon zuhören wollen? Und die Kollegen, die nur auf dem Papier kritisierten, rümpften die Nase, konnte man sich mit diesem neuen, lärmenden und vulgären Medium gemein machen. Reich saß also mit uns zwischen Scylla und Karyptis oder zwischen Borke und Baum, um es für Nicht-Literaten zu sagen. Between the Devil and the Deep Blue Sea, wie es die Professoren in Middlebury gesagt hätten, aber er verlegte den Devil auf die linke Seite.

Und im Quartett legte er sich tatsächlich in einer Sendung mit dem Himmel an, lehnte sich gegen dessen Zorn auf. In den Augustmonaten des Quartetts waren wir stets in Salzburg, also bei der ORF zu Gast. Der August in Salzburg kann schwül sein, furchtbar schwül. Und so ist die Kuppel in dem Studio, um den vier Diskutanten und den Gästen etwas frischere Luft zukommen zu lassen, des Nachts angehoben und leicht geöffnet. In einer August-Sendung Anfang der 90er-Jahre war Reich-Ranicki dabei, Walsers Verteidigung der Kindheit nach Strich und Faden in den Boden zu kritisieren. Da, plötzlich, ein fahles Zucken von der Kuppel und dann ein heftiges Donnergrollen. Marcel Reich-Ranicki hob beide Arme weit geöffnet zum Himmel, blickte hinauf zur Kuppel und sagte: "Man wird doch noch was gegen Walser sagen dürfen!"

Dieser selbstbewusste Geistesblitz macht deutlich, worauf neben seiner Argumentationslust und seinem Diskutierzorn die Wirkung des Quartetts beruhte. Natürlich verstärkte es seine Kritiker-Allmacht, dass er bald im Fernsehen über die Literatur das letzte Wort hatte. Er kannte keine Gnade. Als einmal das Quartett in der Dezember-Sendung (auch sie war der ORF und der Stadt Wien vorbehalten) im Schloss Schönbrunn über Literatur stritt und diskutierte, fiel Reich erst in der Rage der Wortgefechte ein, auf die Uhr zu gucken, und er sah, die Sendung dauerte 90 Minuten, dass die Zeit auf 80 Minuten stand. "Kann man denn in Österreich keine anständige Uhr bekommen", krähte er zornig, worauf Techniker durch die Zuschauerreihen - die Livesendung kennt keine toten Winkel - wie durch Schützengräben krochen, um die vermeintlich falsch gehende Uhr zu reparieren. Sie ging aber gar nicht falsch, nur im Unterschied zu den ZDF-Sendungen in Deutschland zählte sie rauf statt runter. Geblieben ist der Eindruck, dass Österreichs Uhren anders gehen, und obwohl er damit falsch lag, hatte er in gewisser Weise doch recht.

Reich hat bis ins letzte Jahr, wenn man es etwas hochtrabend sagen will, Fernsehgeschichte geschrieben. Als er den Deutschen Fernsehpreis für sein Lebenswerk vor eineinhalb Jahren erhalten sollte und lauter Komiker wie Atze Schröder und Fernsehköche wie Lafer auf der Bühne redeten, wurde ihm das Warten und das Sitzen sehr lang. Er wähnte sich auf einmal im falschen Film und fragte den neben ihm sitzenden ZDF-Intendanten Schächter, wie lange es noch dauern würde. Der beschwichtigte ihn, auch mit falschen Uhrzeiten, und versuchte ihn hinzuhalten, merkte aber dann doch, dass Reich der Kragen zu platzen drohte (die Ungeduld meines Freundes äußert sich geradezu schmerzhaft für andere, man leidet mit ihm, wenn er leidet, und fürchtet die unmittelbar bevorstehende Explosion), und schickte eine Botschaft an Gottschalk, er möge Reich vorziehen. Da war es schon zu spät, und Reich erklärte kategorisch von der Bühne herab: "Ich nehme den Preis nicht an!"

Natürlich war das eines der Fernsehereignisse des Jahres, weil im Fernsehen mit Ausnahme des Fußballs nichts Ungewöhnliches geschieht. Die Folgen waren so nachhaltig, dass man, als man beim Filmpreis in Berlin den etwa ebenso alten Vicco von Bülow für sein Lebenswerk auszeichnen wollte, die Ehrung vorsichtshalber an den Anfang setzte statt ans quälende Ende. Auch in diesem Fall hat Reich Fernsehgeschichte, besser: Fernsehdramaturgie-Geschichte geschrieben.

Marcel Reich-Ranicki war in Köln, als er den Preis nicht annahm, ohne seine Frau "Tosia". Wer weiß, ob sie den Löwen nicht gezähmt und so ein Fernsehereignis verhindert hätte! Denn der große alte Mann, der wie ein einsames Kritiker-Gebirge wirkt, ist in Wahrheit ohne seine Frau undenkbar, obwohl er durchaus in der Lage ist, gegen diese fast symbiosehafte Zweisamkeit und Nähe anzukämpfen. So bestätigte er einem Frager in einer Sendung die Authentizität seines Ausspruchs: "Man kann nicht alle schönen Frauen dieser Welt verführen. Aber man sollte wenigstens danach streben!" Dabei sah er seiner Frau, die in der ersten Reihe saß, funkelnd in die Augen, und sie lächelte versöhnlich.

Viele Jahre bevor das Quartett wirklich zu Ende ging, es war in Leipzig kurz nach der Wiedervereinigung, sagte er mir auf dem gemeinsamen Rückflug nach Frankfurt, er wolle aufhören, es sei nun wohl genug. Ich pflichtete ihm bei mit einer so albernen Redensart wie: "Ja, man soll aufhören, wenn es am besten schmeckt." Er aber fügte hinzu, außerdem sei seine Frau krank und deshalb nicht mitgekommen, und er wolle sie keineswegs allein lassen. Gott sei Dank ging es seiner Frau schnell wieder viel besser, sie begleitete ihn zu jeder Sendung, und das noch bis ins Jahr 2001, also elf Jahre. Die enge Liebe zwischen seiner Frau und ihm, die gegenseitige Fürsorglichkeit, geht auf das Warschauer Getto zurück, wo er seine spätere Frau als junges Mädchen über die Ermordung ihres Vaters hinwegtröstete.

Die beiden sind fest davon überzeugt, und es ist wohl schon deshalb wahr, dass sie sich durch dieses Zusammenleben auch das Leben in der Vorhölle des Gettos gerettet hätten. Diese Rettung hängt auch stets mit der Literatur zusammen, und ein anrührendes Zeugnis ist die von ihr illustrierte Hauspostille von Erich Kästner, die sie im Getto für ihn handschriftlich verfertigt und mit eigenen wunderzarten Zeichnungen versehen hatte. Die beiden haben sich auch durch die Literatur gerettet, durch die Musik, die Konzerte im Warschauer Getto, die der junge Marcel rezensierte. Später auch dadurch, dass sie ihren polnischen Lebensretter, der sie unter Todesgefahr vor den Nazis bewahrte, mit Erzählungen aus der Weltliteratur bei Laune hielten. Da hat Reich ihm die geliebten Schiller-, Goethe- und Shakespeare-Dramen an langen, kalten, Abenden fast auswendig vorgetragen.

Als großen Erzähler (der er nie sein wollte) weisen ihn auch seine Lebenserinnerungen aus, einer der größten Bucherfolge in Deutschland, und ein Welt-Bestseller nebenbei. Die deutsche Literatur, die er in Berlin begierig aufnahm, mit der er sich innerlich gegen die Nazis und ihre immer lebensbedrohlicheren Verfolgungen zur Wehr setzte - das hat ihn zum großen Kritiker und zum Vermittler gemacht. Er war nie jemand, der seinen Frieden mit der Geschichte und mit der Welt in Feierstunden und Festansprachen gesucht hätte. Aber er hat seinen Kritikerberuf so ernst und so existenziell genommen, dass daraus die Vermittlung entstand. Eine der merkwürdigsten und bewundernswertesten Eigenschaften ist, dass seine Liebe und Bewunderung für Richard Wagner, die "Meistersinger" wie den "Tristan", durch den notorischen Antisemitismus des Komponisten nicht getrübt wurde. Er ist als Kritiker nicht nur gnadenlos sondern auch gnadenlos gerecht - auch in seiner Liebe.