Früher war hier der Wilde Westen des Alten Landes, noch heute verbindet die Cranzer Fähre das größte Obstanbaugebiet Europas mit Blankenese.

Hamburg. Estedeich: Eine Hamburger Hauptstraße, die Lkw-Fahrer abschreckt und Neubürger anzieht. Wem sein Leben lieb ist, der muss in den Spiegel gucken: Dieses große Ding mit dem rot-weißen Rahmen steht am Estedeich in Cranz und könnte Symbol für die gleichnamige Straße sein. Scharf und unvermittelt macht die enge Fahrbahn dort einen Knick, zirkelt sich um den Deich herum. Nur im Spiegel können Autofahrer erkennen, ob jemand entgegenkommt.

Gelegentlich schickt ein Navigationsgerät einen ahnungslosen Lkw-Fahrer hierher. Die Straße ist dann für einige Zeit blockiert. Es ist aber keine Willkür oder planerische Fantasie, die hier für Spiegel und Knick verantwortlich ist. "Es ist allein dem Flusslauf geschuldet", sagt Boy Friedrich.

Der promovierte Historiker wohnt selbst am Estedeich 82. Der Elbezufluss Este verläuft dort in meist sanften, manchmal auch harten Schleifen bis zur Mündung in die Elbe. Auf rund einem Kilometer Länge begleitet ihn diese Cranzer Straße ganz im Südwesten der Stadt und mitten im Obstbaugebiet Altes Land.

Ein Stadtteil, der in Wahrheit eher ein Dorf ist. Die Straße Estedeich ist Zentrum und Ursprung zugleich. Alles, was sie ausmacht, bestimmt der Fluss. Er diktiert den Straßenverlauf und die Lage der Häuser. Die Flussniederung hat auch für die fruchtbaren Böden gesorgt, die Obstbäume so prächtig gedeihen lassen.

Doch eine typisch bäuerliche Dorfstraße ist der Estedeich nicht, sagt Historiker Friedrich: "Schauen Sie sich einmal die Häuser an!", sagt er. In der Tat: Neben Fachwerkgebäuden sind jede Menge Gründerzeit-Fassaden zu sehen, zwischen 1870 und Erstem Weltkrieg gebaut. Zum Teil sind es recht hochherrschaftlich anmutende, villenartige Gebäude. Selbst der mächtige Giebel des Rehder-Hofes, des letzten Bauernhofs von Cranz, sieht aus wie eine Mischung aus Gründerzeit-Villa und Bauernhaus. Verputzt und mit Stuck verziert ist das Gebäude wie viele hier. Ein malerisches Bild, das vermutlich bald unter strengeren Schutz gestellt wird. Ähnlich wie das nahe Blankenese könnte der Estedeich zum Milieugebiet erklärt gestellt werden, Anträge dazu werden in den Behörden bereits bearbeitet.

"Es gibt zwei große Familien-traditionen am Estedeich: Landwirtschaft und Schifffahrt; und so ist die Straße früher durch relativen Wohlstand geprägt gewesen", sagt Friedrich, der selbst aus einer Cranzer Reeder-Familie stammt. Kleine Küstenreedereien und auch Überseelinien hatten am Estedeich ihren Sitz, Kutterwerften. Die Familie von Friedrich betrieb eine Fährverbindung zum nahen Blankenese.

Die Lage an der Estemündung war dazu ideal, bei Cranz lag Jahrhunderte die beste Stelle, um die Elbe zu überqueren. "Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Passage hier so wichtig wie heute Elbtunnel und Elbbrücken zusammen", sagt Friedrich. Im Mittelalter wurden dort von Nord nach Süd jede Woche Hunderte von Ochsen mit floßartigen Booten über die Elbe gebracht. "Man muss sich das vorstellen wie im Wilden Westen", sagt Friedrich. Später nutzten die Menschen am Estedeich die Lage am Fluss, um direkt am eigenen Grundstück einen Liegeplatz für Schiff oder Kutter zu schaffen. Eine Lage, die heute immer noch den großen Charme der Straße ausmacht - und das nicht nur für diejenigen, die hier wohnen. Das Gasthaus zur Post, das Fährhaus und auch das Cafè Albers haben dort lauschige Kaffeegärten am Fluss. Auch die Blankenese-Fähre hält am Estedeich und schippert im Stundentakt immer noch hin und her. Hamburgs letzte Straße mit historischem Fähranschluss, sozusagen. Und seit einigen Jahren auch eine Straße mit Badestrand: "Im Sommer gehen wir von unserem Garten aus immer schwimmen", sagt eine Anwohnerin, die erst in den 90er-Jahren an den Estedeich gezogen ist - eine von vielen Neubürgern, die den besonderen Charme der Straße für sich entdeckt haben. Von einem "Strukturwandel, der viele Impulse gibt", spricht Alt-Cranzer Friedrich über die Zuzüge in die alten Häuser. Und offenbar klappt das neue Zusammenleben recht gut. "Wenn man offen aufeinander zugeht, gibt es viele Kontakte und ein gutes Gemeinschaftsgefühl", sagt Obstbauer Gerd Rehder (60).

Auch der Protest gegen die Pläne der Stadt, die Fahrbahn hier normgerecht auszubauen, wird gemeinsam getragen. Norm - das passt eben nicht zum Estedeich. Vielleicht auch ein Grund, warum die Cranzer Straße besonders Individualisten als Neubürger anspricht. Das Café Albers beispielsweise wird von einem Verein geführt, der dort Arbeits- und Ausbildungsplätze für Behinderte anbietet - und so den letzten Bäckerladen im Ort erhält.

Stefan Cramer ist auch so ein Neubürger. Lange hat der 56-Jährige in Ottensen gewohnt, in "Mottenburg", mitten im Szeneviertel. Jetzt restauriert er eine Bootswerft, die schon seit dem 18. Jahrhundert am Estedeich steht. Entdeckt hat er das Kleinod 2008, als er einen Liegeplatz für sein Boot suchte. Jetzt kann er damit am eigenen Garten anlegen. Doch nicht nur das überzeugte ihn vom Estedeich in Cranz, dieser Dorfstraße am Ende der Großstadt; dieser so merkwürdigen Mischung aus Land-Idylle mit Metropolen-Anschluss. Stefan Cramer: "Hier kann man viel freier als anderswo leben."

Nächste Woche: Im Alten Dorfe (Volksdorf)