Der sonnige 1. September 1939 verhieß für die Hamburger ein spätsommerliches Wochenende - bis sie vom Einmarsch der Wehrmacht in Polen erfuhren.

Hamburg. Als Rosa Kolodziej am frühen Morgen in die Innenstadt läuft, ist dieser 1. September 1939 einfach ein normaler Spätsommertag. Die junge Frau betritt am Alsterdamm, dem heutigen Ballindamm, das Gebäude der Firma Münchmeyer, in der die 23-Jährige als Büroangestellte arbeitet. Sie grüßt die Kollegen, setzt sich an ihren Schreibtisch und will gerade mit der Durchsicht der Tagespost beginnen, als ein Vorgesetzter den Raum betritt, sich in die Mitte des Büros stellt und wartet, bis die Damen ihre Gespräche einstellen und erwartungsvoll zu ihm blicken. Dann sagt er: "Kurz vor zehn Uhr haben Sie sich in der Halle zum Rundfunkempfang einzufinden. Wir werden gemeinsam eine Rede unseres Führers und Reichskanzlers hören."

Von diesem Moment an ist es kein normaler Spätsommertag mehr. Irgendetwas muss geschehen sein. Die politische Lage ist angespannt, das Verhältnis zu Polen schwer belastet. Täglich berichten die Zeitungen von polnischen Übergriffen auf die Grenze des Reichs und auf Volksdeutsche, die unter polnischer Verwaltung oder in Danzig leben. Gibt es jetzt Krieg?

Schon wenige Minuten vor zehn stehen die Mitarbeiter von Münchmeyer in der Halle, an deren Stirnseite auf einem Tisch ein Radioempfänger aufgestellt ist, dessen "magisches Auge" grünlich leuchtet. Ein Abteilungsleiter stellte die Frequenz des "Deutschlandsenders" ein. Gleich darauf kündigt ein Sprecher die Direktübertragung einer Führerrede aus dem Reichstag an. Dann ist Hitlers bellende Stimme zu hören. Diesmal ist es anders als bei früheren Führerreden, diesmal geht es nicht nur um Drohungen und Beschimpfungen von politischen Gegnern und fremden Mächten, heute verkündet Hitler, dass etwas geschehen ist. "Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!", schreit der Führer, und auch wenn er das Wort Krieg in seiner Rede sorgfältig vermeidet, wissen Rosa Kolodziej und viele andere Hamburger Arbeitnehmer, die zu dieser Zeit in ihren Firmen vor den Rundfunkgeräten stehen, von diesem Moment an, dass es der Beginn eines neuen Krieges ist. Rosa Kolodziej fragt sich, was ein Krieg für sie bedeuten wird. Ihre Firma ist im Außenhandel tätig, unterhält internationale Kontakte im Im- und Exportgeschäft. Die leitenden Angestellten haben sorgenvolle Gesichter, begeistert ist niemand. Eigentlich haben alle gehofft, dass auch die "Polenkrise" wie die vielen vorangegangenen außenpolitischen Krisen zuvor ohne Waffengewalt gelöst werden wird.

Zunächst scheint es, als sei nichts geschehen. Während die polnische Kleinstadt Wielun, die bereits 4.45 Uhr als erstes Ziel des Kriegs von 29 Sturzkampfbombern der Luftwaffe angegriffen wurde, schon in Trümmern liegt, freuen sich die Hamburger auf das bevorstehende Sommerwochenende. Viele flanieren den Jungfernstieg entlang. Auch Gertrud Lorenz, damals 19 Jahre alt und frisch verliebt, geht mit ihrem Freund und späteren Mann an der Binnenalster spazieren. Der junge Mann, der den Arm um seine Freundin gelegt hat, ist schon zur Wehrmacht eingezogen worden, hat aber an diesem Tag Ausgang. "Lass uns im Alsterpavillon Kaffee trinken", schlägt Gertrud vor, als sie vom Alsterdamm zum Jungfernstieg einbiegen. Kurz darauf betreten sie das beliebte Lokal und finden sogar im Obergeschoss auf dem der Straße zugewandten Balkon Platz.

"Es war wunderschön, wir waren ganz heiter, bis wir unten auf dem Jungfernstieg die Zeitungsverkäufer entdeckten. Sie schrieen: 'Extrablatt! Extrablatt! Es gibt Krieg mit Polen!' Von da an hatte ich nur noch Angst, nicht nur um meinen Freund, sondern auch um den Vater, der auch schon eingezogen und in einer Kaserne in Alsterdorf stationiert war", erinnert sie sich.

Es dauert einige Stunden, bis sich die Nachricht vom Krieg in der ganzen Stadt herumgesprochen hat. Am frühen Nachmittag ist der Schüler Rudolf Lohse vom Schanzenviertel zur Reeperbahn aufgebrochen. Als 16-Jähriger darf er die Tanzlokale zwar noch nicht betreten, aber Musik bekommt er trotzdem zu hören. So steht er vor den geöffneten Türen des legendären "Trichters" an der Reeperbahn 1 und hört von drinnen, wie das Juan Llossas Orchester zum Tanztee spielt. Die Stimmung ist gut, die überwiegend jungen Paare tanzen ausgelassen zu der temperamentvollen argentinischen Musik. Doch plötzlich ist eine Stimme zu hören, die Musik verstummt, Rudolf Lohse reckt den Hals, um etwas zu erkennen. Offenbar ist jemand auf die Bühne gestiegen, von dort aus ruft er laut und etwas atemlos: "Aufhören, aufhören! Wir haben Krieg!"

Aus den Zeitungen erfahren die Hamburger, dass ab sofort Verdunkelung befohlen ist. In der Papierabteilung des Warenhauses Hermann Tietz am Jungfernstieg, dem späteren Alsterhaus, bilden sich Schlangen, denn vielen fehlt noch der dunkle, lichtundurchlässige Karton, mit dem die Fensterscheiben beklebt werden müssen. Am Abend legt sich Düsternis über die sonst so helle Stadt. Dass aus den Wohnungen kein Licht nach draußen dringt, überwachen Polizisten und Luftschutzwarte. Die Straßenbeleuchtung bleibt ausgeschaltet, und auch die Neonreklamen an den eleganten Geschäften an der Mönckebergstraße flammen nicht auf.

Besonders merkwürdig ist die Stimmung auf St. Pauli, denn auch die Amüsierlokale an der Reeperbahn und dem Spielbudenplatz liegen im Dunkel. Welch ein Unterschied zum Lichterglanz, der noch in der vorangegangenen Nacht hier zu sehen war. Zwar spielen die Kapellen wieder, auch im Lokal Trichter wird an diesem Abend wieder getanzt, die Kinos und die Varietés haben weiterhin geöffnet, aber die Stimmung ist gedrückt.

Viele Hamburger vertiefen sich an diesem Abend zu Hause in das Merkblatt über das Verhalten bei Fliegeralarm, das auf Anweisung von Gauleiter Karl Kaufmann an die Haushalte verteilt worden ist. Richtig vorstellen kann man sich trotzdem nicht, dass es einmal notwendig werden könnte, mitten in der Nacht vor feindlichen Fliegern in Luftschutzräume fliehen zu müssen. Bisher gibt es nur Übungen, und jeder hofft, dass es dabei bleiben möge. Aber viele Menschen haben Angst.

Manche haben dafür seit diesem 1. September auch noch mehr Grund als zuvor: Für Juden gilt ab sofort ein abendliches Ausgehverbot. Und wer sich nicht auf die deutsche Propaganda verlassen will und stattdessen ausländische Sender hört, begibt sich von nun an in Lebensgefahr. Noch am 1. September tritt die "Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen" in Kraft. In Paragraf 1 wird das "absichtliche Abhören ausländischer Sender" strikt verboten. Bei Zuwiderhandlung droht eine Zuchthausstrafe, deren Dauer nicht geregelt ist. Tatsächlich kommen auch viele, die beim Abhören von BBC London oder "Radio Moskau" erwischt oder von ihren fanatischen Nachbarn denunziert werden, in Konzentrationslager, später gibt es dafür sogar Todesurteile.

Die meisten Hamburger werden dieses Risiko vermieden haben. Wer am Abend des ersten Tages des Zweiten Weltkrieges den "Reichssender Hamburg" einschaltet, empfängt das übernommene Programm des "Deutschlandsenders". Die "Gleichschaltung" im Rundfunk ist längst Alltag. Aus dem knisternden Lautsprecher tönt leichte Unterhaltungsmusik, ganz so, als sei nichts geschehen.

Rosa Kolodziej (Jahrgang 1916), Gertrud Lorenz (Jahrgang 1919) und Rudolf Lohse (Jahrgang 1923) leben noch heute in Hamburg.