Sie wollten die Repressalien des kommunistischen Regimes nicht länger ertragen und machten sich auf den Weg über das Meer ...

Hamburg. Ihre Reise führte sie nach Deutschland. Genevieve Wood traf die Vans in Farmsen. Als Van Dat-Minh sieben Jahre alt war, schlief er eine Woche lang in einem Schweinestall im südvietnamesischen Sumpfgebiet, umgeben von Scharen von Mücken. Dann fuhr er auf einem Boot, drei Tage und drei Nächte dauerte die Tortur. Das Boot war 17 Meter lang, 193 weitere Menschen waren auf dieser Nussschale zusammengepfercht wie Vieh. Es stank nach Erbrochenem, denn die See war rau und die meisten Passagiere seekrank. Nahrung gab es so gut wie gar nicht. Schließlich harrte der kleine Junge fast vier Monate lang auf der Insel Pulau Bidong vor Malaysia aus. Einer Insel mit Palmen und weißem Sand. Nur dass dieser Sandstrand übersät war von Maden. Maden, die sich von den menschlichen Exkrementen im Sand ernährten. Für den siebenjährigen Van Dat-Minh aber war dieser Höllentrip lediglich ein Abenteuer. Kinder betrachten die Welt eben mit anderen Augen.

Jetzt spricht aus diesen Augen Glück. Viel Glück. Denn das hatten der heute 37-jährige Vietnamese mit chinesischen Vorfahren, sein Bruder Huy-Tam (34) seine Eltern Vi My und Van Si-An (beide 64) damals. "Das war nicht schlimm", sagt Dat-Minh. "Ich war ein Kind." Im August vor 30 Jahren ist die Familie Van aus dem vietnamesischen Saigon nach Hamburg-Billbrook ins Auffanglager geflüchtet. Wie insgesamt 10 375 vietnamesische Flüchtlinge, die von 1979 bis 1986 nach Deutschland gebracht wurden. Es sind die sogenannten Boatpeople. Man kennt sie von Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen in viel zu kleinen Booten viel zu viele Menschen dicht an dicht gedrängelt stehen. Hilflos im Wasser treibend.

Sie sind angekommen, die Vans. Und ihr Glück dauert nun schon seit Jahrzehnten an. Das Glück, in Wohlstand, aber vor allem in Freiheit leben zu können. Die Flucht vor der Diktatur der Kommunisten hat Vater Van Si-An (im Vietnamesischen wird erst der Nachname, dann der Vorname genannt) und seiner Familie ein neues Leben beschert. Die Freiheit und das Glück der Familie liegen heute in Farmsen-Berne. Im eigenen Einfamilienhaus, das mit dem Gelbklinker von außen und der dunklen Schrankwand samt Glasvitrine und der Pendeluhr drinnen typisch deutsch anmutet. Wären da nicht die goldene Buddha-Statue auf dem Wohnzimmerschrank, der knallrote Schrein daneben und goldene chinesische Schriftzeichen auf rotem Untergrund, eingerahmt an der Wand.

Mutter Vi My und ihre Kinder sitzen am Tisch in dem großen Wohnzimmer mit Blick in den Vorgarten. Der Tisch ist lang, damit das Ehepaar Van, ihre beiden Söhne Dat-Minh und Huy Tam (34) samt Ehefrauen, die in Hamburg geborene Tochter Tuyet Mai (28) und die vier Enkeltöchter Platz nehmen können. Mit am Tisch sitzt, ganz am Ende, Gerhard Katsch. Der 87 Jahre alte Rentner aus Hohenfelde hat den Vans vor 30 Jahren beim Start in der fremden, neuen Heimat als Pate geholfen. "Er hat uns von der ersten Stunde an begleitet", sagt Van Dat-Minh. Und noch immer gehört er mit zur Familie.

Bis nach Farmsen-Berne war es aber ein weiter Weg:

Es ist mitten in der Nacht im April 1979, als die Vans in ihr neues Leben starten. Der kleine Dat-Minh, sein jüngerer Bruder Huy-Tam, seine Eltern, zwei Cousins und die Tante warten im Schweinestall an der Mekong-Mündung. Ihr vierstöckiges Wohn- und Geschäftshaus in der Nähe von Saigon hatten sie als Hochzeitsgesellschaft getarnt vor sieben Tagen verlassen, mit dem, was sie am Leib trugen und vier Koffern. In dieser Nacht im Stall hören sie einen Schrei. Der unbekannte Mann ruft ihre Namen. Es ist so weit. Die Flucht im Boot kann beginnen. Wohin die Reise geht, wie lange sie dauern wird, das wissen die Menschen zu diesem Zeitpunkt nicht. Wichtig ist nur: bloß weg. Weg von den Schikanen der vietnamesischen Miliz, die unberechenbar zu jeder Tages- und Nachtzeit an der Tür stehen und klopfen kann. Mal nehmen die Männer Herrn Van für eine Nacht mit, mal für eine Woche, mal kommt er einen ganzen Monat in ein Erziehungslager und muss die Kanalisation reinigen.

Herr Van war ein wohlhabender Händler, lebte ein westlich geprägtes Leben und arbeitete auch in der südvietnamesischen Kommunalverwaltung. Das passte den neuen Machthabern wohl nicht. Die Vans waren der Willkür ausgeliefert.

"Ich habe lange gehofft, dass alles gut wird", sagt der alte Herr Van heute. Sein Deutsch ist gebrochen und schwer zu verstehen. "Wir wollten die Freiheit." Er zahlte für die Flucht pro Kopf acht Unzen Gold, für die Kinder die Hälfte. Alles lief unter der Hand. "Geheim", sagt Herr Van und gestikuliert mit seinen Händen. Ruhig am Tisch sitzen bleiben kann er bei diesem Thema nicht. Es ist zu aufwühlend. Er geht durch das Wohnzimmer, lässt seinen älteren Sohn von der Flucht berichten, um dann immer wieder noch ein Detail, das ihm wichtig ist, einzustreuen. "Meine Frau machte Ärger, hatte Angst", sagt er. Frau Van wollte nicht in das kleine Boot steigen. Wie die meisten konnte sie nicht schwimmen. Und nun sollte sie in diese Nussschale. Mit 180 anderen Flüchtlingen klettern die 14 Mitglieder der Van-Familie in den Kahn. Milizionäre schießen auf die Flüchtlinge. Verletzt wird aber niemand. Die Frauen haben gebackenen Reiskuchen in Bananenblättern dabei. Essen werden sie davon in den kommenden drei Tagen und Nächten nicht. "Allen war schlecht", erzählt Dat-Minh Van und lacht doch, als ob er von einer lustigen Klassenreise berichtet.

Die Männer wachen oben an Deck, um ihre Frauen und Kinder unten im Schiffsrumpf vor Piraten zu schützen. "Hohe Wellen", sagt der alte Herr Van. Sie schaffen es trotz der stürmischen See lebend an Land. Wo sie waren? "Wir wussten es nicht", sagt Herr Van. An Bord gab es keinen Kompass. "Der Schiffsführer hatte keine Ahnung", sagt der alte Herr und zieht die Schultern hoch.

Sie waren auf der Insel Pulau Bidong, wie weitere 30 000 Flüchtlinge. Dieses Flüchtlingslager war die Hölle auf Erden, einen Quadratkilometer groß, ein Steilhang, bisher unbewohnt, weil es kein Wasser gab.

Die Vans bauten sich eine Hütte aus Plastikplanen, Platz war Mangelware. Dass die Not die Menschen zusammenschweißt, galt hier nicht: "Für einen Goldring gab es eine Plastikplane", sagt der junge Herr Van. Freie Plätze musste man den Vorbesitzern abkaufen. Ihre Notdurft verrichteten die Menschen wie Hunde am Strand. "Es stank und der Sand war übersät mit Maden", sagt Van. "Oben auf den Hügeln brannte es jeden Tag", erinnert sich Van Dat-Minh. Es waren die Leichen, die der kleine Junge damals brennen sah. Eine Insel des Todes. Vor allem Alte und Kleinkinder starben infolge der unsäglichen hygienischen Zustände.

Doch die Familie Van hatte Glück, das sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht. Während andere Flüchtlinge schon ein Jahr lang auf dieser Insel lebten, ging für die Vans die Reise nach vier Monaten weiter - in einer Boing 737 nach Hamburg. Möglich war das, weil die Wochenzeitung "Die Zeit" damals Spenden sammelte, um die Flüchtlinge zu retten.

Ausgerechnet Deutschland, dachten die Vans damals. Sie befürchteten von einem kommunistischen Land ins andere geflohen zu sein. Und dann der 16. August 1979, Flughafen Fuhlsbüttel. Als Van Si-An mit Frau und Kindern deutschen Boden betritt - "da war nur die Freude über die Freiheit".

Die erste Zeit verbringt die Familie zunächst im Auffanglager an der Halskestraße in Billbrook. Immer an ihrer Seite: Gerhard Katsch, der selbst in britischer Kriegsgefangenschaft war. "Als Kriegsgefangener fühlte ich mich wie der letzte Dreck." Damals nahm er sich vor: "Sollte ich jemanden treffen, um den man sich kümmern sollte, tue ich das." Bei Herrn Katsch probierten die Van-Jungs das erste Mal in ihrem Leben Erdbeeren mit Sahne. "Ich war begeistert", erinnert sich Van Huy-Tam. "Das schmeckt, hier bleibe ich", soll er damals gesagt haben. Am Sonntag gab es Schwarzwälder Kirschtorte. Auch nach 30 Jahren gehört Gerhard Katsch dazu. Jetzt sind es die Vans, die sich um ihn kümmern.

Um die Vans muss sich niemand mehr kümmern. Die Boatpeople gehören längst dazu. Alle besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Herr Van wurde Busfahrer und betrieb bis zur Rente mit seiner Familie ein China-Restaurant. Die drei Kinder haben studiert. Der siebenjährige Junge von damals ist inzwischen Apotheker, seine Schwester studiert Pharmazie, und Huy-Tam ist Diplomkaufmann. Alle drei engagieren sich ehrenamtlich, sind Wahlvorsteher. Van Huy Tam ist kommunalpolitisch aktiv und hilft an Schulen in einem Projekt der Bildungsbehörde jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Die Enkeltöchter haben nur Einsen und Zweien in ihren Zeugnissen.

"Wir picken uns aus allem die Rosinen", sagt Van Huy Tam und lacht. Sie lachen viel, die Vans. Darüber, dass sie zwar Buddhisten sind und das chinesische Neujahrsfest groß feiern, aber eben auch gern zu Weihnachten die vier Enkeltöchter beschenken. Dankbarkeit ist es, das die Familie Van empfindet und Glück. Immer wieder Glück.