Zwischen dem Bahnhof Altona und der Stresemannstraße siedeln Kreative inmitten von Gleisen und zehllosen Brauerei-Lastern.

Hamburg. Sie hat keine Piazza, ist auch keine Allee. Sie ist nicht schön, doch sie hat Charme. Altonaer Charme, den man entdecken muss. Der sich in den Hinterhöfen versteckt, an den alten Bahnanlagen entlang wuchert, in alten Gemäuern steckt.

"So was wie hier, das findest du sonst nirgendwo mehr in Hamburg, so mitten in der Stadt", sagt Tontec-Geschäftsführer Marc Peemöller (37). "Da musst du schon in die Peripherie." So was, das sind hübsche Altbauten aus Kaiser Wilhelms Zeit neben schlichten 50er-Jahre-Rotziegelbauten. Bahnanlagen aus der vergangenen Jahrhundertwende gegenüber Neubauten, die noch nicht einmal zehn Jahre zählen, und meterhohen Bierkästenbergen der Holsten-Brauerei.

So ist sie, die Harkortstraße, die sich bislang ganz erfolgreich dem Griff der Großstadt entzogen hat und mit der der Bezirk Altona noch Großes vorhat. In vielleicht zehn Jahren soll hier eine Art neuer HafenCity ohne Wasser entstehen, der Altonaer Bahnhof zum Teil zurückgebaut, der Bahnhof Diebsteich für Fernbahnen ausgebaut werden. Auf dem vergessenen und knapp 60 000 Quadratmeter großen Gleisdreieck sollen mehr als 1000 Neubauwohnungen entstehen. "Von einem Bauprojekt der Superlative" ist die Rede. Bis dahin allerdings ist die Straße Heim für ein Kreativgewerbe, das sich in den gammeligen Ecken der alten Bahnanlagen eingerichtet hat: Fotografen, Tangolehrer, Anwälte, Grafiker sowie Sounddesigner und Veranstaltungstechniker wie Peemöller.

Und Heimat für ein paar Hundert Hansestädter, die die zentrale Lage schätzen. "In fünf Minuten bist du in Ottensen, in der Schanze oder auf St. Pauli", sagt Andreas Sievert (29), der sich mit Junior Artdirectorin Nadine Bessler (26) und Barkeeper Bastian Ketterer (25) die "Anglerbar" teilt, ehemals Kneipe, jetzt 140 Quadratmeter Wohnerdgeschoss. Gleich gegenüber warten ein paar Holsten-Laster auf einem verwilderten Parkplatz nahe dem Eingang zur Brauerei auf ihre nächste Tour. Nach ein paar Jahren direkt am Hans-Albers-Platz ist die Harkortstraße mit ihrer vor allem im südlichen Teil markanten baumgesäumten Weite so etwas wie eine grüne, ruhige Oase für die drei, auch wenn hin und wieder ein paar Schwerlaster vorbeirasen.

"Wir könnten zwar ein ganzes Buch darüber schreiben, was wir in der Wohnung alles machen mussten", sagt Sieverts Freundin Nadine, aber allein das Nachbarschaftsverhältnis wiege alles wieder auf. "Wir haben einen super Draht zueinander." Von Großstadt-Anonymität keine Spur.

Seine neuen Nachbarn kennt Björn Bieber, ein paar Hundert Meter weiter in Richtung Sackbahnhof Altona, noch nicht. Was daran liegt, dass der 40-Jährige erst vor sieben Tagen in eine der wenigen 2001 errichteten Neubauten gezogen ist - und die ersten sechs Tage gar nicht zu Hause war. "Ich habe die Wohnung über das Internet gefunden. Die Lage ist so interessant. Die Straße kannte ich nicht", sagt der Ernährungswissenschaftler. Auch für ihn war die Nähe zur City ausschlaggebend. Die Preise, "nun ja, die liegen bei 11 bis 13 Euro pro Quadratmeter und sind damit so teuer wie in Othmarschen oder Ottensen". Der entscheidende Vorteil: An der Harkortstraße gibt es noch freie Wohnungen und Parkplätze.

Neubürger und Alteingesessene, sie alle treffen sich in der "Blauen Blume" an der Ecke Gerichtstraße/Harkortstraße, Gastronomie seit 1914, heute Ausgehpunkt des kreativen Kiezes. "Bodenständig, grundsolide mit einem alternativen Touch", antwortet Karin Wege (42), seit sechs Jahren Wirtin der Blauen Blume, auf die Frage nach dem Harkortstraßen-Bewohner an sich.

Wer allerdings einen Alteingeborenen treffen will, muss lange suchen: "Einer ist nach 50 Jahren ausgezogen. Das Haus wurde neulich abgerissen. Ein anderer ist vor zwei Jahren verstorben", heißt es im nahen Kiosk oder in der Wäscherei des Viertels. Wohngemeinschaften wie "Sievert, Bessler, Ketterer" kommen und gehen. Längst sind die ersten Rotklinkerwohnbauten gefallen und hinterlassen Lücken im Straßenbild. In Blickweite der Redaktionsräume, in der die Nordausgabe der "taz" gemacht wird, steht Volker Wagner (57) auf einer alten Verladerampe. Noch vor 30 Jahren wurden hier Güterzüge entladen, Stückgut, per Hand. In Zeiten des Containerverkehrs keine Option mehr. Jetzt lagern hier Lampen und Kerzenhalter aus Himalaja-Salz, Vertrieb weltweit. "Die Ecke hier hat noch richtig Atmosphäre", sagt Wagner, der vor fünf Jahren die ersten Lagerräume anmietete, damals noch bei der Bahn. "Kulturbahnhof", hieß das große Stichwort, mit dem der 1880 errichtete und bis in die 20er-Jahre ständig erweiterte Kopfbahnhof an der Harkortstraße zur Jahrtausendwende eine neue Zukunft erhalten sollte. Es gab Kurzfilmfestivals, Räume, in denen Bands proben konnten, das Theater N.N. in der 15 000 Quadratmeter großen Güterbahnhofshalle. Weil die Mieten für Kunstschaffende zu hoch wurden und das Bauamt die Nutzung wegen unzureichenden Brandschutzes untersagte, war fünf Jahre später Schluss. Seitdem stehen die riesigen Hallen weitgehend leer.

Die Akte der Harkortstraße im Stadtteilarchiv Ottensen in der nahen Zeißstraße ist dünn. Ein paar Bebauungspläne zur Umwidmung der südlichen Harkortstraße von einer Einbahnstraße in einen "Zweirichtungsverkehr".

Anfang der 90er-Jahre wurde er eingeführt, seitdem brettern die Getränkelaster in einem Rutsch von Süd nach Nord und umgekehrt durch die engen Kurven zur Holsten-Brauerei. Die hatte die Harkortstraße vor noch fünf Jahren in eine Privatstraße umwandeln, die Bierproduktion ausweiten wollen, scheiterte aber.

Heute gehört ein Großteil des Bahngeländes einem neuen Investor. Er entscheidet über die Entwicklung. "Was in zehn Jahren ist, keiner weiß es", sagt Marc Peemöller, dessen Lautsprecher und Soundsysteme einige bekannte Klubs schmücken. "Wir lassen es auf uns zukommen und hoffen, dass viele der schutzwürdigen Gebäude stehen bleiben."

Die nächsten Folgen: Mittwoch, 5. August: Deichstraße (Altstadt), Freitag, 7. August: Lämmertwiete (Harburg), Montag, 10. August: Kandinskyallee (Billstedt)