Mit einem speziellen Anzug lässt sich fast perfekt simulieren, wie 70- bis 80-Jährige ihren schwierigen Alltag erleben.

Meine Gelenke sind steif. Arme und Beine kann ich nur mühsam bewegen, meine Finger kribbeln. Das Sehen fällt mir schwer: alles ist in diffuses Licht getaucht und unscharf, Farben kann ich kaum unterscheiden. Verkehrslärm, Stimmen und Musik dringen als dumpfer Mix an mein Ohr. Die Orientierung fällt mir schwer - hier, im Hauptbahnhof, den ich heute als Mittsiebzigerin betrete.

Für eine knappe Stunde habe ich mich auf Zeitreise begeben und bin innerhalb weniger Minuten 30 Jahre älter geworden. Möglich macht es der "Age Explorer" - ein Anzug, den das Meyer-Hentschel-Institut für Seniorenmarketing 1994 erfunden und seitdem ständig weiterentwickelt hat. Ziel ist, Wahrnehmung und Körpergefühl alter Menschen zu simulieren und die Erkenntnisse für die Entwicklung seniorengerechter Produkte oder Einrichtungen zu verwenden.

Weil Senioren als äußerst kauffreudig gelten, werden sie zunehmend von Industrie und Dienstleistungsgewerbe als Klientel entdeckt. Mehr als 12 000 Testpersonen haben den in Saarbrücken entwickelten Alterssimulator bisher ausprobiert.

Letzteres war auch Grund für die Sozialbehörde, den Age Explorer auszuleihen - auf einer Veranstaltung zum Thema Pflege sollten die Besucher sich damit in die Lage alter Menschen hinein versetzen. Ich darf den knallroten Anzug vorher für einen Selbstversuch anziehen. Dagmar Gerling vom Meyer-Hentschel-Institut wickelt mir feste Bandagen um Ellenbogen und Knie. Schon bin ich unbeweglicher und habe Schwierigkeiten, Jacke und Hose anzuziehen. Insgesamt sechs Kilogramm Blei sorgen für schwere Glieder. Handschuhe mit stacheligem Innenfutter simulieren Arthritis und machen meine Finger steif. Gepolsterte Kopfhörer lassen mich schwerhörig werden, und ein Helm mit gelbem Visier verengt mein Blickfeld und schwächt mein Sehvermögen: gelb kann ich nicht mehr von weiß, grün nicht mehr von blau unterscheiden.

Meine Umgebung ist in diffuses Licht getaucht - Konturen verwischen, Entfernungen lassen sich nicht mehr zuverlässig einschätzen.

Mit schweren Schritten gehe ich in den Hauptbahnhof. Werde ich mich dort zurechtfinden? Kontrastreiche Hinweisschilder mit großer Schrift sind kein Problem. Anders ist es bei den Fahrzielanzeigern in der Wandelhalle: Die kann ich nicht lesen und müsste im Ernstfall jemanden um Hilfe bitten. Schwierig ist auch der Kauf einer Fahrkarte: Erst als ich mit meinem Visier an den Automaten stoße, kann ich die Schrift lesen. Der Reißverschluss meines Portemonnaies entgleitet meinen Fingern mehrmals, die Münzen muss ich dicht vor mein Gesicht halten, um ihren Wert zu erkennen. Auf dem Weg zur S-Bahn taste ich mich die Treppe hinunter - die Konturen der Stufen sind in dem diffusen Licht schwer zu erkennen.

Die Bahnfahrt bleibt mir erspart - die mir zur Verfügung stehende Zeit für meinen Ausflug in die Zukunft ist abgelaufen. Auch gut, so kann Dagmar Gerling mich wieder auspacken. Sofort fühle ich mich wieder 30 Jahre jünger. Wie gut, dass das Alter noch weit weg ist.