Die neue Öffentlichkeit, die Guttenbergs Plagiat entlarvt hat, ist trotz aller Risiken ein Gewinn für die Demokratie, meint der ehemalige Verfassungsrichter

Die Protestbewegungen in Nordafrika wären vermutlich schnell und folgenschwer unterdrückt worden, hätte es nicht Handy-Kameras als Zeugen und das Web 2.0 mit Facebook und Twitter als Boten gegeben; ohne die Plattform GuttenPlag Wiki wäre Freiherr zu Guttenberg noch Minister und politischer Hoffnungsträger für viele. Aufgedeckt hat sein doppeltes Spiel mit der Wahrheit ein einzelner Wissenschaftler; das Ausmaß der Täuschungen aber ist erst durch das Recherchieren (die netzbasierte Kollaboration) von Hunderten durchschaubar geworden.

Informationen und Wissen aller Art werden heute immer mehr über "das Netz" gesammelt, angereichert und verbreitet. Unter Nutzung eines "Schwarms" aktiv engagierter Menschen entwickeln Elektronikunternehmen heute neue Software. Textilfirmen nutzen die potenziellen Käufer bei der Produktion von Modeartikeln als Ideengeber: Käufer werden zu "prosumers", einer Kombination von Produzenten und Konsumenten. Wurden Skandale früher von Journalisten recherchiert und medienmäßig aufbereitet und publiziert, so bieten die neuen sozialen Netzwerke des Web 2.0 jedermann Möglichkeiten dazu. Auf immer wieder überraschende Weise wird die "Schwarmintelligenz" von digital vernetzten Teilöffentlichkeiten genutzt.

Diktatoren können das Fernsehen zensieren, aber sie schaffen es nicht mal in China, die filigran verknüpften Kommunikationsflüsse einer engagierten Community völlig einzudämmen. Regierungen mögen kritische Demonstrationen verbieten, die Mobilisierung von Massen als "Flashmobs" haben sie damit aber noch nicht verhindert. Entstanden sind neue soziale Räume, neue Arten von Öffentlichkeiten, neue Möglichkeiten politischen Wirkens. Guttenbergs Plagiate wären ein Schmaus für investigativen Journalismus gewesen, wenn dieser den richtigen Appetit gehabt hätte. Aber selbst dann hätte das Rechercheergebnis vermutlich nicht die Durchschlagskraft entwickelt, die mit dem Informationspotenzial heutiger Suchmaschinen und der Verbreitung über Twitter, Facebook und Blogs und deren Aufgreifen in Presse und Rundfunk freigesetzt werden konnte.

Wer Guttenbergs Charme und Chuzpe erlegen war, wird vielleicht geneigt sein, ihn als Verfolgten von Plagiatsjägern zu heroisieren. Diejenigen, die sich an der Aufdeckung der Täuschung beteiligt haben, werden schon als moderne Blockwarte stigmatisiert. Blockwarte haben privates Verhalten etwa von Nachbarn denunziert. Ist die Aufklärung einer gravierenden Täuschung durch einen die Öffentlichkeit stets virtuos nutzenden, sie aber jetzt irreführenden prominenten Politiker auch nur ansatzweise damit vergleichbar? Darf vor dem Hintergrund des aufgedeckten Bluffs nicht auch gefragt werden, ob hier vielleicht ein Muster sichtbar geworden ist, das auch anderes Handeln des Ministers prägte?

Neue Möglichkeiten sind fast immer ambivalent. Internet und Web 2.0 bergen neben Chancen auch Risiken. Zu ihnen gehören die Nutzung als Pranger, das Öffnen von Privatheit, mediale Manipulation bis zu Internetkriminalität. Uns fehlen noch anerkannte Risikobewertungen und gesellschaftliche Antworten auf nicht hinzunehmende Risiken. Dass in dem auf die Öffentlichkeit gerichteten Wirken eines Politikers Fehlverhalten aufgedeckt wird und er bei offensichtlicher Unfähigkeit, seine Fehler zeitnah einzusehen, sein Amt verliert, ist in einer Demokratie kein Verlust, sondern ein Gewinn.

Hätten die traditionellen Medien dies aufgedeckt, sie hätten ihre Wächterfunktion als unverzichtbar gefeiert. Presse und Rundfunk werden sich jedoch daran gewöhnen müssen, dass sie ihre wichtige Aufgabe in einer freiheitlichen Demokratie nicht mehr allein erfüllen können. Die sozialen Web-Netzwerke sind in ihren Arbeitsweisen, in Schnelligkeit (der Kommunikation in Echtzeit) und den Wirkungen mit denen traditioneller Medien nur begrenzt vergleichbar. Sie ergänzen diese und bereichern unsere politische Kultur durch neue Leistungen, aber auch neue Erwartungen und Ansprüche. Es werden auch manche Fehlentwicklungen und Missstände zu verkraften und Wichtigtuer zu ertragen sein. Aber das alles gibt es in traditionellen Medien auch.

Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, 71, war Bundesverfassungsrichter und Hamburger Justizsenator (parteilos)