Berlin. An den Börsen geht es seit Wochen abwärts. Ist das eine Korrektur – oder droht eine lange Schwächephase? Was Anleger wissen sollten.

Der Medizintechnikhersteller Signal Advance ist nicht gerade das, was man unter einem Aktionärsliebling versteht. Das US-Unternehmen hat seit 2019 keinen Jahresbericht bei der US-Börsenaufsicht SEC eingereicht, die Papiere werden kaum gehandelt, die Aktie ist weniger als einen Dollar wert, ein sogenannter Pennystock.

Im vergangenen Jahr aber stürzten sich Anlegerinnen und Anleger auf das Papier, die Aktie stieg binnen vier Tagen in der Spitze um mehr als 12.000 Prozent – von 58 Cent auf 70,85 Euro. Der Grund: Tesla-Chef Elon Musk hatte gewittert: „Nutzt Signal.“ Er meinte den Messengerdienst, der aber nicht an der Börse notiert ist. Stattdessen kauften die Anleger die Papiere mit demselben Namen, hinter dem sich aber ein ganz anderes Unternehmen verbarg. Als das auffiel, brach der Kurs wieder in sich zusammen.

Es ist eine Eskapade von vielen, die sich in den vergangenen zwei Jahren ereigneten. Privatanleger legten sich mit Hedgefonds an, um ihre Börsenlieblinge in die Höhe zu jubeln, Spaßwährungen vervielfachten sich.

Zwei Jahre lang herrschte an den Börsen Goldgräberstimmung. Doch die Euphorie ist der Katerstimmung gewichen – und bei einzelnen Titeln regelrechter Panik. Als der Mutterkonzern der Foto-App Snapchat am Dienstag eine Geschäftswarnung herausgab, fiel der Snap-Kurs um rund 40 Prozent. Auch andere Unternehmenspapiere stehen unter Druck. Unsere Redaktion beantwortet die wichtigsten Fragen:

Wie entwickeln sich die Börsen in diesem Jahr?

Noch zum Jahresbeginn herrschte eine positive Grundstimmung. Der Deutsche Aktienindex (Dax) kletterte auf sein Rekordhoch von 16.271,5 Zählern. Die Aussicht auf ein Ende der Corona-Pandemie und eine wirtschaftliche Erholung trieben die Kurse.

Doch seit dem Krieg in der Ukraine befinden sich viele Märkte im freien Fall. Die 100 größten amerikanischen Tech-Werte, die an der Technologiebörse Nasdaq notieren, haben seit Jahresbeginn fast 30 Prozent an Wert verloren. Der Dow Jones befindet sich knapp 13 Prozent im Minus, der Dax kämpft seit Wochen mit der 14.000-Punkte-Marke – ebenfalls ein Minus von knapp 13 Prozent.

Warum stehen die Börsen unter Druck?

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden nicht nur Lieferketten unterbrochen, vor allem kam es an den Energie- und Rohstoffmärkten zu Turbulenzen. Das treibt die Inflation – und zwingt die Notenbanken zur Zinswende. „Zinsen wirken auf die Märkte wie die Gravitation auf den Menschen. Sind sie hoch, zieht es die Märkte nach unten. Sind sie niedrig, steigen die Märkte empor“, erläutert Christian Kahler, Chefanlagestratege der DZ-Bank.

Die US-amerikanische Notenbank Fed hat ihren Leitzins bereits um 0,5 Prozent angehoben, um der Teuerung Paroli zu bieten. In Europa deutete die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), Christine Lagarde, eine Zinsanhebung im Juli an. „Wenn Zinsen steigen, wird es teurer, Kredite aufzunehmen – den Effekt spüren derzeit Immobilienkäufer, deren Bauzinsen bereits stark gestiegen sind. Steigende Zinsen führen auch dazu, die Investitionsfähigkeit der Unternehmen zu verringern. Das wiederum kann sich negativ auf die Konjunktur auswirken“, sagte Joachim Schallmayer, Leiter Kapitalmärkte und Strategie bei der Deka-Bank, unserer Redaktion.

Je höher die Zinsen stiegen, desto höher sei der Bewertungsabschlag am Kapitalmarkt: „Wer eine Aktie kauft, kauft einen zukünftigen Zahlungsstrom erwarteter Unternehmensgewinne. Je höher die Zinsen steigen, desto weniger ist dieser Zahlungsstrom heute wert, was den Preis dieser Aktie reduziert.“

Welche Branchen stehen besonders unter Druck?

Vor allem der Technologiesektor ist unter Druck geraten – denn die oft jungen Unternehmen nutzen das billige Geld, um schnell wachsen zu können. Aber auch vermeintliche Pandemiegewinner sind zuletzt unter die Räder gekommen. Die Aktie des Fitnessgeräteherstellers Peloton etwa war in der Pandemie heiß begehrt – doch seit ihrem Allzeithoch hat sie über 90 Prozent an Wert verloren. Auch der Essenslieferant und Dax-Konzern Delivery Hero hat seit seinem Hoch im vergangenen Jahr mehr als 80 Prozent eingebüßt.

Nachdem zunächst vor allem kleinere Unternehmen abverkauft wurden, erwischt es nun auch die Tech-Riesen. Apple etwa hat seinen Status als wertvollster Konzern eingebüßt – das ist nun der Ölriese Saudi Aramco. Die Aktie von Amazon notiert 35 Prozent niedriger als noch zu Jahresbeginn, Facebook-Mutter Meta liegt im selben Zeitraum gar mit 43 Prozent im Minus.

Droht eine Blase wie zur Jahrtausendwende?

„Im Technologiebereich erleben wir einen Crash, der mich mit seinem Tempo und seiner Intensität an das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 erinnert“, sagt Deka-Bank-Experte Schallmayer. Auch damals war die Euphorie angesichts der Entwicklungen im Internet schier grenzenlos. Die Deutschen entdeckten mit der Telekom-Aktie die Börsenkultur für sich.

Es endete in einem großen Knall, als die Blase platzte. Viele Unternehmen gingen pleite, Kurse stürzten ab. Auch heute klingeln mit Blick auf gewisse Krisenindikatoren die Alarmglocken. Der vom Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller entwickelte Indikator Shiller-KGV, der den Aktienkurs in ein Verhältnis zu den durchschnittlichen Unternehmensgewinnen der letzten zehn Jahre setzt, lag zuletzt so hoch wie vor der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Dotcom-Blase 2000.

Nun rauschen die Kurse nach unten. „Am Aktienmarkt hat eine gewisse Kapitulation eingesetzt. Viele Anleger haben die Nerven verloren und selbst gute und stabile Unternehmenstitel wie etwa Apple, Meta oder Netflix verkauft“, sagt DZ-Bank-Chefanlagestratege Kahler. Das Ende der Fahnenstange sei dabei mitunter noch nicht erreicht: „Es kann durchaus passieren, dass es insbesondere bei den kleineren Technologiewerten noch ordentlich scheppert.“

Allerdings gebe es auch Unterschiede zur Dotcom-Blase: „Das Geschäftsmodell vieler Technologiewerte ist tragfähig und steht für nachhaltigen Erfolg, das Cloud-Geschäft verspricht einen Milliardenmarkt, und sie sind inflationssicher“, sagt Kahler. Auch massiv abgestrafte Firmen wie Peloton oder Delivery Hero hätten „kein schlechtes Geschäftsmodell“ und die Chance, im künftigen Markt zu bestehen. Kahler rechnet ab Herbst mit einer Trendwende.

Droht ein Black-Swan-Szenario?

Tierische Metaphern sind an der Börse an der Tagesordnung. Die Bullen heben die Kurse an, die Bären drücken sie nach unten. Doch kein Tier ist bei Börsianern so gefürchtet wie der schwarze Schwan. „Ein schwarzer Schwan zeichnet sich durch etwas aus, was man nicht oder nur selten kennt“, erklärt Kahler. Die Corona-Pandemie sei ein solcher schwarzer Schwan gewesen. Sie hat die Märkte unvorbereitet getroffen, vermeintliche Sicherheiten waren über den Haufen geworfen, die Folgen trafen die gesamte Weltwirtschaft.

Ist der Ukraine-Krieg auch ein solches Black-Swan-Szenario? „Beim Ukraine-Krieg ist das anders“, sagt Schallmayer. „Ein Krieg in Europa galt zwar auch als unvorstellbar, ist aber kein völlig unbekanntes Szenario. Auch Inflation und eine abschwächende Konjunktur sind keine unbekannten Risiken.“

Was aber würde passieren, wenn zu den bestehenden Risiken auch noch ein schwarzer Schwan hinzukäme? Schallmayer ist optimistisch: „Sollte es zu einem neuen schwarzen Schwan kommen, sind die Anleger derzeit bereits risikobewusster, die Fallhöhe ist begrenzt. Das große Plus der jetzigen Zeit ist es, dass die Euphorie dem Aktienmarkt den Rücken gekehrt hat.“

Wie sollten sich Anleger verhalten?

„Anleger müssen sich darauf einstellen, dass sich die großen Wachstumszuwächse der vergangenen Jahre so schnell nicht wiederholen werden. Jetzt geht es um den Vermögenserhalt“, sagt Joachim Schallmayer. Doch selbst wenn die Zinsen zurückkehren, werden sie auf dem Sparbuch die Inflation nicht ausgleichen können. „Wer also nicht investiert an der Seitenlinie steht, verzeichnet real einen Vermögensverlust. Sicherheit kostet auch weiterhin Geld“, sagt Schallmayer.

Er empfiehlt einen Mix aus Aktien, Unternehmens- und Hochzinsanleihen sowie Gold und Rohstoffen im Depot, wobei Aktien den größten Anteil ausmachen sollten. Auch sei eine globale Ausrichtung nach wie vor richtig. Im derzeitigen Marktumfeld würden sich laut dem Deka-Bank-Experten auch Chancen ergeben.

DZ-Chefanlagestratege Christian Kahler rät Anlegern, ihre Depots genau zu prüfen: „Man muss sich fragen: Schnaufen manche Unternehmen einfach nur durch, sind aber vom Geschäftsmodell her gut aufgestellt? Oder handelt es sich um ein Unternehmen, das rein spekulativ nach oben gejagt wurde, aber kein funktionierendes Geschäftsmodell hat und ein Kandidat ist, um schlimmstenfalls sogar insolvent zu gehen.“

Allerdings sollten sich die Anleger von der Nervosität nicht anstecken lassen. „Der Anlagehorizont sollte acht bis zehn Jahre in die Zukunft gerichtet sein, von kurzfristigen Ausschlägen sollte man sich nicht verrückt machen lassen.“ Selbst wenn eine lange Seitwärtsbewegung drohen würde, wie es sie zuletzt von 1966 bis 1982 gegeben hat, seien Aktien auf lange Sicht trotz hoher Bewertungen ertragreich. „Selbst wenn man in den 1970ern Unternehmen mit hohen Kurs-Gewinn-Verhältnissen wie etwa von Coca-Cola gekauft hätte, hätten sie im Schnitt immer noch mehr als sieben Prozent Rendite abgeworfen“, so Kahler.