Berlin. Die Börsen scheinen den Schock des Ukraine-Krieges schnell abgehakt zu haben. Kann das gut gehen? Was Anleger jetzt beachten sollten.

Ein Krieg mitten in Europa, Russland als größtes Land der Welt vor der Staatspleite, eine Verschärfung der Lieferkettenprobleme und neue Lockdowns bei der Pandemiebekämpfung in China – es herrscht wirtschaftliche Krisenstimmung. Nur an den Börsen scheint man davon wenig wissen zu wollen.

Im Vergleich zum Tag vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, dem 23. Februar, notiert der Deutsche Aktienindex nur knapp drei Prozent tiefer. Dem kurzzeitigen Einbruch nach Russlands Einmarsch folgte an den Börsen eine Erholung, die an den Buchstaben „V“ erinnert. Daran haben sich Anlegerinnen und Anleger bereits gewöhnt. Auch nach dem ersten Schock der Corona-Pandemie erholten sich die Kapitalmärkte „v“-förmig.

Ukraine-Krieg: Commerzbank-Experte warnt vor Risiken bei der Geldanlage

Wer Kursrücksetzer als Kaufchance sah, wurde oft belohnt. Aber kann diese Strategie auch jetzt funktionieren? „Die Märkte blenden Risiken aus“, sagt Chris-Oliver Schickentanz, Chefanlagestratege der Commerzbank. Zum einen drohe das Gasembargo, das die Wirtschaft schwächen würde. „Zum anderen wird Entwicklungen abseits der Ukraine fast keine Aufmerksamkeit mehr gewidmet“, sagt Schickentanz.

Dabei seien die Risiken für die Märkte groß: die Lockdowns in China, die Zinswende der amerikanischen Notenbank Fed, die zurückgefahrenen Erwartungen bei den Gewinnmargen der Firmen. „Diese Entwicklungen spiegeln sich in den Kursen derzeit nicht wider“, warnt der Anlagestratege.

Geldanlage: Experten empfehlen eine breite Streuung

Wie also sollten sich Anleger verhalten? „Geldanlage ist in dieser Zeit ein Kompromiss“, meint Schickentanz. „Anlegerinnen und Anleger sollten breit diversifizieren.“ Bei der Commerzbank würden derzeit US-Anlagen stärker gewichtet werden als europäische Anlagen.

Bei Aktien läge der Fokus auf Gesundheitstiteln und IT-Unternehmen. „Klassische europäische Zykliker stehen derzeit eher außen vor“, so Schickentanz. Dabei hätten sie das größte Aufholpotenzial, sollte der Krieg schnell enden. „Aber solange der Krieg anhält, sind sie großen Risiken ausgesetzt.“

DZ Bank hält am Jahresziel von 16.000 Punkten fest

Auch Christian Kahler, Chefanlagestratege der DZ Bank, rät dazu, breit gestreut zu investieren. Der MSCI-World-Index, der die Wertentwicklung von mehr als 1600 Unternehmen aus 23 Industrieländern abbildet, notiert bereits mehr als drei Prozent über dem Wert vom Vortag des Krieges. Seit Jahresbeginn hat er allerdings fast sieben Prozent eingebüßt. Beim Dax, der die 40 wichtigsten deutschen Unternehmen abbildet, ist das Minus mit fast elf Prozent aber noch größer.

Im Gegensatz zu Schickentanz ist Kahler optimistisch: „Trotz der rasanten Erholung halte ich die derzeitige Entwicklung nicht für übertrieben. Der Markt ist nach wie vor gesund“, sagt er. Am gesteckten Jahresziel von 16.000 Punkten beim Dax hält die DZ Bank derzeit ebenfalls weiter fest.

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Meinungen beim Gasboykott gehen auseinander

Auch die Risiken eines Gasboykotts hält Kahler für überschaubar. Betroffen seien vor allem Unternehmen, die nicht an der Börse gelistet seien. „Große Konzerne in diesen Branchen, die wie beispielsweise Bayer oder BASF im Dax notieren, haben aufgrund ihrer weltweiten Tätigkeit bessere Ausweichmöglichkeiten als die kleinen und mittelständischen Firmen, die ausschließlich hierzulande operieren“, sagt er.

Chancen sieht Kahler vor allem bei Aktien von Pharmaunternehmen, Luxusgütern und Tech-Titeln. „Großkonzerne im Tech- und Pharmabereich wie Apple, Google, Pfizer oder Johnson & Johnson leiden nicht unter der Inflation – und aufgrund ihrer finanziellen Solidität auch nicht unter höheren Zinsen“, sagt Kahler. Risiken sehe er dagegen bei allem, „was an der Konjunktur hängt, Leute transportiert oder Metalle fördert.“

Dieser Text erschien zuerst auf www.waz.de.