Am Tag nach der Katastrophe steht der 2.100-Einwohner-Ort Nachterstedt unter Schock. Drei Menschen im Alter von 48, 50 und 51 Jahren werden weiterhin vermisst.

Nachterstedt. „Alles ist weg. Wir haben absolut nichts mehr, kein Haus, keine Autos, keine Papiere, keine Fotos.“ Elke Schirrmeister kämpft mit den Tränen. Völlig fassungslos steht sie mit ihrem Mann Ekkehard vor dem Bürgermeisteramt in ihrem Heimatort Nachterstedt. 20 Jahre lang bewohnte das Ehepaar ein Doppelhaus am Rande des ehemaligen Braunkohletagebaus in der kleinen Gemeinde im Harzvorland von Sachsen-Anhalt. Doch das Haus existiert seit Sonnabend nicht mehr. Es wurde bei einem gewaltigen Erdrutsch in die Tiefe gerissen und von Geröll und Wassermassen verschluckt. Am Tag nach dem Unglück herrschte immer noch Rätselraten über die Ursache.

Bei allem Unglück hatten die Schirrmeisters noch Glück: Sie leben! Ihre Nachbarn, eine 48-jährige Frau und ihr 50-jähriger Ehemann sowie ein weiterer, 51-jähriger Nachbar werden seit dem Unglück vermisst. Es scheint unwahrscheinlich, dass sie überlebt haben. Es war Sonnabendmorgen gegen 4.40 Uhr, als urplötzlich ein etwa 120 mal 350 Meter großes Böschungsstück abbrach und rund 140 Meter tief in die geflutete Braunkohlegrube rutschte. Der Kantenabbruch löste auf dem Concordia-See, der in der ehemaligen Kohlegrube entstanden ist und heute als Wassersportzentrum Touristen in den Salzlandkreis zieht, eine Flutwelle aus, die auf dem gegenüberliegenden Ufer für erhebliche Schäden sorgte.

Am Tag danach steht der 2100-Einwohner-Ort noch immer unter Schock. „Solche Unglücke kennt man bisher doch nur aus dem Fernsehen“, sagt ein Mann, der einen Kinderwagen vor sich herschiebt. „Ich kenne einen der Vermissten, das hat eine ganz andere Dimension.“ Überall im Ort stehen kleine Grüppchen von Einwohnern beisammen, diskutieren, schütteln fassungslos die Köpfe. Spekulationen, wonach der Erdrutsch von starken Regenfällen oder durch einen Hohlraum unter Tage ausgelöst worden sein könnte, machen schnell die Runde.

Experten warnen aber vor voreiligen Schlüssen. Zunächst müssten Gutachten erstellt und Daten ausgewertet werden. „Die Ursachenforschung wird sich über Wochen und Monate hinziehen“, sagt Uwe Steinhuber, Sprecher der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV), die für die Sanierung ostdeutscher Bergbauregionen zuständig ist. Gerhard Jost vom Landesamt für Geologie und Bergbauwesen hält es für „eher unwahrscheinlich“, dass einer der Hohlräume oder Schächte das Unglück ausgelöst hat. Klar ist aber auch, dass heute der Bau von Wohnhäusern auf der Böschung einer Abraumhalde, so wie dies vor mehr als 80 Jahren in Nachterstedt geschah, nicht mehr genehmigt würde. Die nun zerstörten Häuser waren 1936 errichtet worden.

Die mehr als 40 Einwohner, deren Häuser evakuiert wurden, konnten am Sonntagabend für kurze Zeit in ihre Wohnungen zurück. Das hatte der Krisenstab in Nachterstedt entschieden. Die Anwohner sollen sich wichtige Gegenstände holen können, ehe sie wieder in Ferienwohnungen oder bei Bekannten unterkommen. „Wir konnten den Betroffenen aber nur eine knappe halbe Stunde gewähren“, sagte Polizeisprecherin Bettina Moosbauer. „Die Menschen wurden vorher psychologisch betreut. Es ist nicht leicht das zu verkraften, wenn sie in ihre Wohnungen kommen und Abschied nehmen müssen. Die Betroffenen mussten Sonnabendmorgen teils nur mit Schlafzeug bekleidet ihre Häuser verlassen.

Der Unglücksort selbst ist weiträumig abgesperrt, auch um die vielen Schaulustigen fernzuhalten. Laut Polizei besteht nach wie vor „akute Lebensgefahr". Noch immer befürchten die Experten, dass es zu weiteren Erdrutschen kommen kann. Seit dem Unglück am Sonnabendmorgen werden drei Menschen im Alter von 48, 50 und 51 Jahren vermisst. Von ihnen gibt es kein Lebenszeichen. Sie wurden vermutlich von dem Erdrutsch mit in den Tagebausee im östlichen Harzvorland gerissen. Der Concordia-See bleibt vorerst für jeglichen Wassersport und für Besucher gesperrt. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) machte sich am Sonntag per Hubschrauber ein Bild vom Unglücksort und sprach den Betroffenen sein Mitgefühl aus.

Auch Elke und Ekkehard Schirrmeister müssen das Ereignis erst einmal verarbeiten. Sie sind am Sonnabend aus dem Urlaub zurückgekehrt, wo sie die schreckliche Nachricht erreichte. Geblieben ist ihnen ihr Leben – und ihr Wohnmobil. „Uns wurde immer gesagt, dort wo ihr wohnt, ist es sicher“, sagt der 70-jährige Ekkehard Schirrmeister. „Aber entscheidend ist, dass wir leben.“ „Wir fangen bei Null an, aber es muss weiter gehen“, sagt seine Frau. In Nachterstedt, da sind sich beide einig, wollen sie nicht bleiben.