Ein Bohrer konnte zu den verschütteten Kumpel vordringen. Sie sollen nächste Woche mit verbundenen Augen nach oben gebracht werden.

San José. Die in der Mine San José verschütteten Bergleute aus Chile werden wohl erst am Dienstag gerettet werden können. Am Sonnabend konnte zwar ein Bohrer zu dem 630 Meter Tiefe liegenden Raum vordringen, doch zunächst muss das Bohrmaterial aus dem Schacht geholt werden, was etwa sechs Stunden dauern wird. Dann werden Kameras hinabgelassen, um die Stabilität des Schachtes zu überprüfen. Als frühestmöglicher Zeitpunkt für den Beginn der Rettung galt der kommende Dienstag – je nachdem, wie viele Arbeiten zur Stabilisierung des Schachtes nötig sind.

Mindestens 70 Meter des Schachtes sollen zur Stabilisierung mit Metall ausgekleidet werden. Ursprünglich war man davon ausgegangen, dass der gesamte Schacht stabilisiert werden muss, bevor die Kumpel mit einer Rettungskapsel an die Erdoberfläche geholt werden können. Die Fahrt in der Rettungskapsel dauert pro Bergmann anderthalb Stunden, insgesamt dauert die Rettung damit bis zu zwei Tage.

„Man kann durch eine Kamera sehen, dass der Schacht in einem sehr guten Zustand ist, das Gestein ist sehr, sehr hart“, sagte der Chef der für die Bohrung zuständigen Firma Geotec, Pedro Buttazzoni, dem Fernsehsender TVN. Die Behörden müssten nun entscheiden, wie viel Meter stabilisiert werden sollen.

Chiles Präsident Sebastian Piñera sagte, er rechne mit einer Rettung kommende Woche. „Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, das ist nicht wichtig.“ Das wichtigste sei, „dass die Bergleute lebend und sicher geborgen werden“.

Piñera schlug vor, dass die Kirchenglocken im ganzen Land läuten sollen, wenn die Bergleute an die Erdoberfläche kommen. Er wolle während der Rettung dabei sein, sagte Piñera. Er werde am Montag nach Ecuador reisen und versuchen, am Dienstag bereit zu sein, um den Familien beizustehen. Boliviens Präsident Evo Morales wollte nach eigenen Angaben einer Einladung Piñeras folgen und ebenfalls bei der Rettung dabei sein. Einer der 33 Kumpel ist Bolivianer.

Die Rettungskräfte haben schon eine Liste vorbereitet, in welcher Reihenfolge die Bergleute geborgen werden sollen: Die Schwächsten zuerst, die Stärksten zuletzt.

Bei ihrer Rettung werden die 33 Kumpel mit verbundenen Augen nach oben kommen. So soll verhindert werden, dass die Männer nach mehr als zwei Monaten Dunkelheit im Stollen durch das plötzliche helle Tageslicht Netzhautschäden erleiden.

Als Erstes dürfen die "Mineros" in abgeschiedenen Räumen ungestört ihre Frauen, Kinder und Eltern begrüßen, ohne dass sie von Reportern und Kameraleuten beobachtet werden können. Danach bringt sie ein Hubschrauber für 48 Stunden nach Copiago ins Hospital.

"Sie werden auf Augenschäden untersucht, Röntgenbilder der Lunge werden gemacht sowie Zähne und Haut kontrolliert, um Schäden auszuschließen", so Gesundheitsminister im Camp von San José, wo die letzten Vorbereitungen zur Bergung im Gange sind.

Die Leidensgenossen selbst fürchten, dass sie nach ihrer Rettung aus dem Bergschacht den Kontakt zueinander verlieren. Den 33 Kumpeln sei es wichtig, dass sie nach dem Verlassen der Mine vereint blieben, sagte einer der Rettungskräfte in San José. "Sie kommen aber aus verschiedenen Teilen Chiles", fügte Alejandro Pino, der täglich mit den Verschütteten spricht, hinzu. Daher hätten sie Angst, dass die Gruppe auseinanderbreche.

"Ich glaube, dass sich hier eine wichtige Gruppe gebildet hat, die auch gelernt hat, mit ihren Differenzen umzugehen", sagte Pino weiter. "Sie nennen sich sogar schon ,Die 33'." Die Bergleute harren seit dem 5. August in 700 Meter Tiefe aus.

Als am Sonnabend kurz nach Sonnenaufgang die Sirenen der Bohrarbeiter zu Heulen begannen und damit den Durchbruch des Bohrers zu den Eingeschlossenen verkündeten, entlud sich die Spannung der Angehörigen in Jubel und Freude. „Chi, Chi, Chi, Le, Le, Le“, schrien sie den chilenischen Schlachtruf von Sportveranstaltungen in die klare Morgenluft.

Das Lager Esperanza – auf Deutsch Hoffnung – ist eine wildwuchernde Mischung aus Woodstock und Camperidylle. Aus bis zu zehn Meter langen Wohnmobilen dringt Rockmusik in die Nacht, der ganze Wagen schaukelt, während spanische Journalisten offenbar eine rauschende Fete feiern. Direkt daneben macht ein völlig erschöpfter Fotograf Feierabend: „Ich hau' mich hin“, sagt Marcelo, der das Brummen Dutzender kleiner Stromgeneratoren offenbar gar nicht mehr wahr nimmt. Benzindunst mischt sich mit Nebelschwaden, die über die felsigen Hügel herabkriechen. Es ist bitterkalt. Chemieklos für umgerechnet zehn Euro Miete am Tag tragen eine ganz eigene Duftnote bei.

Im Casino, einem Zelt wie für einen Feuerwehrball in Deutschland, sitzen Angehörige, Journalisten und Polizisten an wackeligen Tischen. Vor ihnen stehen dampfende Styroporbecher mit Pulverkaffee. Sie starren auf den Fernseher, der wieder und wieder die Stationen des längsten je aufgezeichneten Grubendramas wiederholt. Der Flachbildschirm ist Teil eines Altars mit 17 Heiligenfiguren aus Gips und vielen Bildchen mit biblischen Motiven, signierten Bergarbeiterhelmen, Briefen mit ermutigenden Zeilen. Die mehr als ein Meter hohe Figur des Heiligen San Lorenzo, des Schutzheiligen der Bergarbeiter, trägt einen roten Plastikhelm auf dem Kopf und hält eine Grubenlampe in der rechten und ein Kruzifix in der linken Hand.

Der Zugang zu den Bohrarbeiten selbst ist den meisten Bewohnern des Lagers verboten. Eine rot-weiße Schranke mit einem Schild „Weiterfahrt verboten“ markiert die Grenze. „Hier ist noch kein Journalist durchgekommen, auch von hinten nicht“, versichert ein Wachmann. Aber bis unmittelbar an den „Sperrbezirk“ drängen sich dicht an dicht die Wohnwagen und Zelte. Die Fernsehsender haben sich aus Bauholz bis zu zehn Meter hohe Beobachtungsplattformen gezimmert, auf denen selbst weit nach Mitternacht dick vermummte Kameraleute an ihren Stativen schrauben und den Nebel filmen.

Die wohl ungewöhnlichste und aufwendigste Rettungsaktion in der Geschichte des Bergbaus hat nicht nur Hunderte Journalisten aus aller Welt auf den Plan gerufen. Auch religiöse Gruppen haben Konjunktur. Auf zahlreichen Plakaten wird zum „Beten für die Kumpel“ aufgerufen, Felsen sind mit dem Spruch „Fuerza Mineros“ (Habt Kraft, Bergleute) bepinselt. „Du hast einen Freund, der dich liebt, und der heißt Jesus“, singt ein hagerer Mann mit ernstem Ausdruck zur Gitarre, während ein Fernsehmann zufrieden über die tollen Bilder lächelt. Vor der skurrilen Szene unterm Partyzeltdach baumelt ein Schild der Adventisten.

Die Angehörigen halten sich eher etwas abseits von dem Trubel und warten nun auf die endgültige Bergung. Viktor hat zum Beispiel von seinem Angehörigen in der Tiefe schon ein paar Erinnerungsstücke bekommen. „Kleidung, Zeitschriften, Briefe, alles Mögliche hat er sozusagen schon mal vorausgeschickt, bevor er selbst bald wieder bei uns ist“, sagt er. „Wenn alle glücklich gerettet sind, wollen wir hier bei der Mine eine Riesengrillparty feiern“, erzählt ein anderer Angehöriger, Alonso Canteras, und reibt sich die klammen Hände über dem Kohlenfeuer, das in einem alten Ölfass glimmt.

Für die Familien ist keine Formulierung dramatisch genug, um bei dieser Geschichte von Schmerz, Tränen und Hoffnung nicht verwendet zu werden: „Jetzt ist der Augenblick nahe, an dem die Erde die 33 Helden gebären wird“, sagt ein chilenischer Fernsehreporter. Und keiner lacht.