Das Nachbeben der Stärke 6,1 richtete offensichtlich keine schweren Schäden an. Unter den Toten befinden sich vermutlich zwei weitere Deutsche.

Port-au-Prince. In dem vom Erdbeben verwüsteten Haiti schwindet mit jeder Stunde die Chance, weitere Überlebende unter den Trümmern zu finden. Tausende Helfer suchen unermüdlich und verzweifelt nach Verschütteten. Die Arbeiten gingen auch nach den neuen massiven Erdstößen vom Mittwoch pausenlos weiter.

In Port-au-Prince richtete das Nachbeben der Stärke 6,1 am Mittwoch offensichtlich keine zusätzlichen schweren Schäden an. Allerdings ist die haitianische Hauptstadt schon zu großen Teilen zerstört. Bislang gibt es immer noch keine genauen Angaben über die Lage außerhalb von Port-au-Prince nach dem neuen Beben. Das Zentrum lag in knapp zehn Kilometern Tiefe rund 60 Kilometer westsüdwestlich der Hauptstadt.

Die neuen Erdstöße überraschten viele Menschen am Mittwoch um 06.03 Uhr (Ortszeit) im Schlaf. Diejenigen, deren Häuser noch standen, seien verängstigt auf die Straßen gelaufen, sagte der dpa- Korrespondent in Port-au-Prince. Viele Menschen beteten aus Furcht vor einer weiteren Verschlimmerung der Katastrophe, obwohl dies nach Einschätzung vieler Rettungshelfer kaum noch möglich ist. Auch am achten Tag nach dem Jahrhundertbeben herrschten in Port-au-Prince chaotische Zustände.

Abertausende Menschen irrten noch immer durch die Trümmer, viele warten seit Tagen auf medizinische Erstversorgung. Die Notfallzentren sind überfüllt. Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter aus aller Welt arbeiten rund um die Uhr bis zur völligen Erschöpfung.

Nach Angaben des Auswärtigen Amts befinden sich unter den Toten mit allergrößter Wahrscheinlichkeit zwei weitere Deutsche. Damit erhöhe sich die Zahl deutscher Opfer auf drei. Allerdings sei eine abschließende Identifizierung nötig. Derzeit würden noch fünf weitere Deutsche vermisst, sagte eine Sprecherin des Amts am Abend.

Auch mehr als eine Woche nach dem Beben würden immer noch Überlebende gefunden, sagte UN-Nothilfekoordinator John Holmes am Mittwoch in New York. „Das macht Mut und deshalb werden wir weitermachen. Solange es eine Chance gibt, Menschen zu retten, werden wir sie nutzen.“ Insgesamt seien bisher 121Überlebende geborgen worden. „Jemanden lebend zu finden, ist ein Wunder. Die Zeit ist sehr begrenzt“, sagte der Arzt Yan Wen Chang, der ein Rettungsteam aus Taiwan begleitet.

Ein solches Wunder geschah am Dienstag in dem zu mehr als 50 Prozent zerstörten Hafenstadt Jacmel an Haitis Südküste. Dort bargen Rettungsteams aus Kolumbien und Frankreich ein erst 22 Tage altes Baby, wie die Feuerwehr in Kolumbiens Hauptstadt Bogota am Mittwoch mitteilte. Zuvor hatte sich die Mutter des Kindes aus den Trümmern befreien können. Sie führte die Helfer zu ihrem eingeschlossenen Kind.

Der Fokus der Helfer liege jetzt auf der Versorgung mit Wasser und Nahrungsmitteln, sagte UN-Koordinator Holmes. „Das ist nach wie vor ein Problem, weil Kraftstoff für Tankwagen und andere Lastwagen fehlt und der Flughafen der Stadt völlig überlastet ist. Wir nutzen jetzt auch den Flughafen von Santo Domingo in der Dominikanischen Republik, aber auch da gibt es Grenzen.“ Das Ziel bleibe es, von den drei Millionen Überlebenden des Bebens zwei Millionen sechs Monate lang versorgen zu können. „Das ist ein harter Weg und wir stehen noch ganz am Anfang“, sagte der Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten.

Das neue Beben, dessen Zentrum rund 22 Kilometer nördlich von Jacmel lag, versetzte Helfer und Opfer der Katastrophe zum Teil in Angst und Schrecken. „Ich bin immer noch unter Schock und habe immer noch Gänsehaut“, sagte Katja Lewinsky von der Johanniter-Unfall-Hilfe der dpa am Telefon. „Wir sind teilweise in Schlafsachen hinausgerannt.“ US-Journalisten berichteten von schwankenden Häusern. Nach anderen Angaben sollen in Port-au-Prince einige vom ersten Beben bereits beschädigte Häuser nun ganz eingestürzt sein.

Insgesamt wurden in Haiti nach Angaben der EU-Kommission bisher rund 80000 bei dem Erdbeben getötete Menschen begraben. Die Zahl der Obdachlosen liege bei zwei Millionen, dringend Hilfe bräuchten 200000 Menschen. Nach wie vor würden rund 1000 EU-Bürger in Haiti vermisst. 35 seien ums Leben gekommen. Derzeit habe die EU 683 Experten aus 23 Ländern im Einsatz. Die Regierung befürchtet, dass bei der Katastrophe bis zu 200000 Menschen ums Leben kamen.

Nach Worten von Haitis Präsident René Préval sind nach dem Erdbeben vom vorigen Dienstag „3000 Banditen“ aus einem zerstörten Gefängnis entkommen. „Diese Leute sind eine Gefahr, weil für jeden Banditenchef zehn bis 20 andere arbeiten.“ Nach dem Erdbeben habe er seine Minister anrufen wollen, sagte Préval in einem Interview der Pariser Zeitung „Le Monde“. „Kein Telefon hat geantwortet. Ich wollte sie mit dem Auto erreichen. Alle Straßen waren blockiert.“Jetzt seien politische Stabilität und Hilfe für den Wiederaufbau nötig. „Ein Land stirbt nicht. Ein Volk stirbt nicht“, sagte Préval.

Am Mittwoch begannen Ärzte auf dem vor Port-au-Prince eingetroffenen US-Lazarettschiff „Comfort“ die ersten Patienten zu behandeln. Der erste Patient sei ein kleiner Junge gewesen, dessen Haut zu 30 Prozent Verbrennungen aufwies, sagte der Chef des Operationsteams an Bord der „Comfort“, Tim Donahue, dem US-Sender CNN. Der Junge sowie ein 20-Jähriger mit gebrochener Wirbelsäule und blutenden Wunden am Kopf wurden zu dem Lazarettschiff gebracht, noch bevor es eigentlich einsatzbereit war. Das US-Schiff bietet Platz für 1000 Patienten, in sechs OP-Sälen wird operiert.

Die Vereinten Nationen stocken ihr Haiti-Kontingent um 3500 Blauhelmsoldaten und Polizisten auf. Damit werden bald mehr als 12 500 UN-Ordnungskräfte im Land sein. Auch die USA wollen mehr als 10 000 Soldaten in Haiti stationieren. Die genaue Anzahl der internationalen Helfer ist nicht bekannt. Die UN bemühen sich aber weiter um eine Koordinierung.

Der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, fordert für Haiti Wiederaufbauhilfen nach dem Vorbild des Marshall-Plans. „Ich bin überzeugt, dass Haiti – das auf unglaubliche Weise von vielerlei getroffen wurde (...) – etwas Großes braucht“, sagte Strauss-Kahn am Mittwoch bei einem Besuch in Hongkong.