Vor dem Nordderby zwischen dem Hamburger SV und Hannover 96 haben die beiden Vereine ihre Rollen in der Fußball-Bundesliga getauscht.

Hamburg/Hannover. Wenn eine Saison auf die Zielgerade zusteuert, geht in Hannover traditionell das Rechnen los. So war es in der vergangenen Spielzeit, als der schon sicher geglaubte Abstieg nur mit zwei Siegen aus den letzten beiden Spielen verhindert werden konnte. Und so ist das wohl auch wieder in dieser Saison, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Dieses Jahr geht es ausnahmsweise mal nicht um den Abstieg, sondern um das Erreichen der Champions League. "Wir haben jetzt zwei schwere Auswärtsspiele, wenn wir die gut überstehen, dann haben wir beste Chancen, den dritten Tabellenplatz zu verteidigen", sagte Trainer Mirko Slomka nach dem 2:0-Sieg gegen Mainz 05 und sprach damit aus, was bislang niemand in der Hauptstadt Niedersachsens auszusprechen wagte: 96 träumt von der Königsklasse.

Vor dem Duell des großen HSV aus Hamburg gegen den kleinen HSV aus Hannover am Sonnabend (15.30 Uhr/Sky und Abendblatt-Liveticker) haben sich die Vorzeichen grundlegend geändert. Während der Hannoversche Sportverein erstmals in seiner Vereinsgeschichte in die Champions League einziehen will, kämpft der Hamburger Sportverein um die letzte Chance auf einen Startplatz in der Europa League. "Im Hinblick auf Europa ist dieses Spiel unser letzter Strohhalm", sagt Kapitän Heiko Westermann, der Hannover als "Überraschung der Saison" bezeichnet.

Wer nach Gründen für den nicht erwarteten Erfolg der Niedersachsen sucht, wird schnell bei Hannovers Lehren aus dem Misserfolg der vergangenen Saison fündig. Ähnlich wie der HSV in dieser Spielzeit schloss 96 die vorige Saison mit einem Minus von rund sechs Millionen Euro ab. Vereinschef Martin Kind, der seinen Verein als einer der letzten Patriarchen der Bundesliga komplett autonom führt, verordnete Sportchef Jörg Schmadtke einen strikten Sparkurs. Der Mangel an Geld und die fehlende Anziehungskraft für Stars hat schließlich dazu geführt, dass Hannover aus der Not eine Tugend gemacht hat. Statt nach fertigen Stars sollte Schmadtke nach leistungswilligen Talenten fahnden - ein Rezept, das auch der HSV in der kommenden Saison unter Neu-Sportchef Frank Arnesen verfolgen will. In Norwegen fand Schmadtke die Stürmer Didier Ya Konan (Rosenborg Trondheim) und Mohammed Abdellaoue (Valerenga IF), die direkt an 30 der 42 Saisontore beteiligt waren. Aus der Zweiten Liga kamen Lars Stindl (Karlsruher SC) und Moritz Stoppelkamp (Rot-Weiß Oberhausen), aus England Torhüter Ron-Robert Zieler (Manchester United Reserve). "Wir suchen nach Spielern, wo andere gar nicht mehr hinsehen", sagte Schmadtke, der im Gegensatz zu Trainer Slomka schnell von Kinds vorgegebenem Sparzwang überzeugt war.

"Wir brauchen uns nicht kleiner zu machen, als wir sind", beantwortete Slomka im vergangenen Jahr die Frage, ob ein Spieler wie Piotr Trochowski in Hannover ein Thema sein könnte. "Trainer denken kurzfristig, ich muss langfristig denken", konterte Sportchef Schmadtke, der eindringlich an das Gehaltsgefüge erinnerte. Der öffentlich ausgetragene Streit zwischen Trainer und Sportchef konnte erst mit einem - ebenfalls öffentlich - verkündeten Schlussstrich Kinds beendet werden. Doch anders als bei anderen Vereinen führte das Geplänkel über die Medien nicht zum Bruch, sondern schweißte die Verantwortlichen enger zusammen. Gemeinsam entschieden Slomka und Schmadtke im Winter, Großverdiener Mike Hanke nach Gladbach zu verscherbeln. In Hannover verdiente Hanke rund 100 000 Euro - im Monat!

Mittlerweile liegt der gekürzte Gehaltsetat Hannovers bei rund 25 Millionen Euro - und damit noch immer weit unter den vom HSV angestrebten 37 Millionen Euro. Die Ziele des kleinen HSV sind in dieser Saison dennoch so groß wie nie. Slomka schaffte es, aus den selbst für Insider unbekannten Spielern, die Schmadtke ihm präsentierte, eine echte Einheit zu schaffen. "Von den Einzelspielern her hat Hannover nicht die Qualität anderer Mannschaften", sagt Westermann, "aber in der Summe passt es einfach. Hannover zeigt eine enorme Laufbereitschaft, deswegen stehen sie ganz oben in der Tabelle."

Der bange Blick auf die Anzeigetafel gehört bei 96 aber weiterhin nach jedem Spiel zum Standardprogramm. So wurde das 1:1 zwischen Bayern München und Nürnberg in der vergangenen Woche in der AWD-Arena auf den Rängen und auf dem Rasen gefeiert, als ob Hannover gerade Meister geworden wäre. Die Mannschaft tanzte auf dem Platz, spritzte mit Wasserflaschen und ließ sich sogar zu einer Ehrenrunde hinreißen. Die "Hannoversche Allgemeine Zeitung" stellte am folgenden Tag eine Liste mit möglichen Gegnern in der Qualifikation zur Champions League zusammen: Lazio Rom, Manchester City, Villarreal oder Fenerbahce. Bei diesen Namen dürfte sich in Hannover niemand mehr kleiner machen, als er ist. Auch nicht vor dem Duell beim großen HSV.