Der HSV konnte kein Spiel mehr gewinnen, seit vor sechs Wochen das Träumen von höheren Tabellenregionen begann. Die Analyse einer Talfahrt.

Hamburg. Am Sonntag war Ruhetag. Die Trainingsstätte des HSV neben der Imtech-Arena blieb verwaist, rund um den Volkspark genossen Spaziergänger das schöne Wetter. Auch Hamburgs Spieler durften ihren freien Tag abseits eines Fußballplatzes verbringen. Trainer Thorsten Fink hatte bereits am Freitag nach der 1:2-Niederlage in Wolfsburg erklärt, dass seine Profis den gestrigen Tag zur Erholung nutzen sollten. "Man muss auch mal abschalten. Meine Spieler haben sich diesen freien Tag verdient, sie sollen auch mal was mit der Familie machen, die Ruhe genießen", sagte Fink, der sich aber eines nach dem Abrutschen auf einen Relegationsplatz gewiss sein kann: Es ist nur die Ruhe vor dem Sturm.

Vor dem als Abstiegsfinale titulierten Spiel beim 1. FC Kaiserslautern am Sonnabend dürften die Alarmglocken beim HSV in dieser Woche so laut wie noch nicht zuvor in dieser Saison schrillen. "Die Spieler wissen, dass nun schwere Zeiten bevorstehen. Es lastet ein immenser Druck auf allen", sagt Sportchef Frank Arnesen, der sich längst von dem ursprünglichen Saisonziel eines gesicherten Mittelfeldplatzes verabschiedet hat. Nach der vierten Niederlage in Folge geht es, da sind sich Arnesen und Klubchef Carl Jarchow einig, bis zum Ende einer schon jetzt verkorksten Saison nur noch um das nackte Überleben. "Ich mache mir Sorgen. Gegen Kaiserslautern muss der Trend umgedreht werden", sagte Jarchow, der sich am Tag nach der Pleite in Wolfsburg allen kritischen Fragen stellte.

Nur eine Frage konnte keiner der Protagonisten zufriedenstellend beantworten: Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Zur Erinnerung: Es ist nicht mal sechs Wochen her, als beim HSV das inoffizielle Ende des Abstiegskampfes verkündet wurde. Damals siegten die Hamburger durch ein glückliches Last-Minute-Tor Paolo Guerreros mit 1:0 in Köln, verbesserten sich auf den zehnten Tabellenplatz und hatten bei nur noch fünf Punkten Rückstand sogar die Europa League wieder im Visier. "Insgeheim hat man immer ein bisschen von den europäischen Plätzen geträumt", hatte Heiko Westermann damals zugegeben, Dennis Aogo erinnert daran, dass "wir den Anschluss nach oben wiederhergestellt haben".

Von nun an ging's bergab, wie einst Hildegard Knef zu singen pflegte. Nur anderthalb Monate später ist vor der Euphorie nichts mehr übrig. Die Gründe für die Talfahrt sind vielschichtig, doch unter dem Strich bleibt eine Erkenntnis, die kein Verantwortlicher laut ausspricht: Dieses Team hat nicht die Qualität für höhere Aufgaben. Die hatte es nicht vor der Demission Michael Oennings im September, und die hat es auch nicht unter Nachfolger Fink.

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Je länger die Spielzeit läuft, desto mehr festigt sich der Eindruck, dass beim Zusammenstellen des Kaders bereits in der Vergangenheit eklatante Fehler gemacht wurden, die Arnesen im vergangenen Sommer nicht mehr ausmerzen konnte. So stellt sich die Entscheidung, trotz Zé Robertos Abgang keinen gestandenen Mittelfeldmann zu verpflichten, als Kardinalsfehler heraus. Lediglich David Jarolim, der weder von Oenning noch von Fink große Wertschätzung erfuhr, konnte in der bisherigen Saison in Ansätzen überzeugen. Gojko Kacar, Robert Tesche und Per Skjelbred enttäuschten auf ganzer Linie, während Tomas Rincon zumindest ein Kämpferherz attestiert wird.

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Als echte Verstärkung kann ohnehin nur die ablösefreie Verpflichtung Gökhan Töres bezeichnet werden, den lediglich eine Verletzung im Winter buchstäblich in die Knie zwang. Dem restlichen Chelsea-Quartett (Jeffrey Bruma, Slobodan Rajkovic, Michael Mancienne und Jacopo Sala) wird zwar überdurchschnittliches Talent nachgesagt, was aber keiner von ihnen konstant nachweisen konnte. Dabei muss sich auch Trainer Fink den Vorwurf gefallen lassen, dass er keines der mutmaßlich hoch veranlagten Talente weiterentwickeln konnte. So stagnieren auch die Youngster Heung Min Son, Tolgay Arslan, Ivo Ilicevic, und Dennis Diekmeier in ihren Leistungen, die talentierten Zhi Gin Lam und Muhamed Besic spielen längst keine Rolle mehr.

Als Anfängerfehler darf man bezeichnen, dass Arnesen Mladen Petric frühzeitig mitteilte, seinen auslaufenden Vertrag nicht zu verlängern. Die Entscheidung ist nachvollziehbar, doch wurde das angekratzte Ego des Kroaten unterschätzt. Mittlerweile ist der Torjäger a. D. nur noch ein Schatten seiner selbst. Eine Alternative ist indes nicht in Sicht, da sich Paolo Guerrero, der bis zu seinem Platzverweis die besten Leistungen zeigte, selbst disqualifiziert hat. Plötzlich wird Marcus Berg, der seit Jahren auf den Durchbruch wartet, nach seinem ersten Saisontor (!) als Hoffnungsträger im Sturm gepriesen.

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Echte Hoffnungsträger im Abstiegskampf suchen die besorgten Anhänger aber vergeblich. Während sich Jaroslav Drobny, dessen Abschied im Falle des Klassenerhalts genauso feststeht wie der von Petric, gegen Wolfsburg den vierten spielentscheidenden Patzer der Saison leistete, befindet sich Marcell Jansen bereits seit Monaten in einem unerklärbaren Formtief. Lediglich die einstigen Europa-League-Träumer Westermann und Aogo scheinen den Ernst der Lage so wirklich zu erkennen. Beide spielen keine gute Saison, gehen aber auf und abseits des Platzes weiterhin bedingungslos voran.

Und Fink? Eine Weiterentwicklung ist nicht zu erkennen. Anders als Oenning, der nach sechs sieglosen Spielen in Folge gehen musste, darf Fink aber nach der selbst verordneten Ruhepause heute wieder zur Tat schreiten. Seine trotzige Ansage für die kommenden Aufgaben: "Wir müssen nichts ändern."