Die Nachwuchsarbeit des HSV zeigt in Person von Zhin Gin Lam und Heung-Min Son erste Erfolge. Primus bleibt der nächste Gegner FC Bayern.

Hamburg. Wer Werner Kern nach dem Erfolgsgeheimnis des FC Bayern fragt, der sollte sich auf eine bemerkenswerte Antwort gefasst machen. Seit 14 Jahren ist der 65-Jährige Nachwuchschef in München, hat in dieser Zeit aktuelle Profis wie Philipp Lahm, Holger Badstuber, Thomas Müller oder Bastian Schweinsteiger gefördert, aber auch Spieler wie Piotr Trochowski, David Jarolim oder Paolo Guerrero. Ohne Zweifel gibt es in München niemanden, der das Ausbildungssystem der Bayern besser kennt. Umso mehr überrascht, wenn Kern im Gespräch über seine Vorzeigeabteilung vor allem einen Faktor als den entscheidenden nennt: Glück.

"Natürlich haben wir in den vergangenen Jahren viel Geld investiert und sehr professionell gearbeitet", sagt Kern, "aber wenn wir ehrlich sind, hatten wir einfach auch Glück, dass viele heutige Stars quasi vor unserer Haustür mit dem Fußballspielen angefangen haben." Tatsächlich stammt Lahm aus München-Gern, Schweinsteiger aus Oberaudorf, Müller aus dem Landkreis Weilheim-Schongau und Badstuber aus Memmingen im Allgäu. Ob das Quartett aber statt im FCB-Jugendhaus im Münchner Stadtteil Harlaching beim HSV in Ochsenzoll gelandet wäre, wenn es aus Pinneberg oder Trittau käme, muss bezweifelt werden.

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Mit "Was wäre wenn"-Fragen kann Bastian Reinhardt nur wenig anfangen. Bei einer Sache ist sich der neue HSV-Nachwuchsleiter im Gegensatz zu seinem Münchner Pendant aber relativ sicher: Mit Glück hat die Talentförderung, die Bayern sehr viel mehr als die offiziell angegebenen fünf Millionen Euro wert sein soll, nur wenig zu tun. "Der Kampf um die besten Talente wird Jahr für Jahr härter. Wir versuchen uns im Nachwuchsbereich immer mehr zu professionalisieren, um gegen die zunehmende Konkurrenz bestehen zu können", sagt Reinhardt. Der 36-Jährige sitzt im Stadionrestaurant Die Raute, bestellt sich einen Kaffee und versucht aufzuzeigen, warum beim HSV in Zukunft das besser laufen soll, was in der Vergangenheit einfach verschlafen wurde: "Im Bereich der Talentförderung braucht man Geduld."

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Nun ist Geduld bekanntlich eine Tugend, die im Millionengeschäft Fußball, in dem das Hier und Jetzt immer mehr als das Morgen zählt, nur selten vorhanden ist. Reinhardt lächelt. "Unsere fußballerische Ausbildung gehört schon jetzt zu den besten in ganz Deutschland. Früher oder später wird sich diese Arbeit auszahlen." Und Reinhardt, der sich zuletzt auch die Internate vom VfB Stuttgart und des SC Freiburg anschaute, hat gute Argumente für seine These. Hamburgs Nachwuchsförderung wurde mit drei von drei möglichen Sternen lizenziert, in der jüngsten U23 aller Zeiten spielen so viele Eigengewächse wie noch nie zuvor (16), der HSV hat mehr deutsche Jugendnationalspieler (neun) als der FC Bayern (fünf). Fast alle HSV-Nachwuchsteams sind derzeit Tabellenführer oder zumindest in der Spitzengruppe ihrer Ligen und im Gegensatz zu den Profis, denen HSV-Chef Carl Jarchow einen strengen Sparkurs verordnet hat, wurde Reinhardt sogar eine Aufstockung seines Nachwuchsetats auf knapp fünf Millionen Euro gewährt.

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In der Theorie muss sich der HSV also auch vor dem FC Bayern nicht verstecken. Nur die Praxis sieht wie so oft ganz anders aus. So wird im direkten Duell am Sonnabend kein einziges HSV-Talent aus dem eigenen Nachwuchs auf dem Rasen stehen, den Eigengewächsen Heung-Min Son und Zhi Gin Lam bleibt maximal ein Platz auf der Bank. Bei Bayern dürfen sich dagegen neben Lahm, Badstuber, Müller und Schweinsteiger auch noch die Talente Toni Kroos und David Alaba gute Einsatzchancen ausrechnen. Alles wirklich nur Glück? "Für uns hat es sich ausgezahlt, dass wir 1995 als einer der ersten Bundesligaklubs unser Nachwuchsleistungszentrum eröffnet haben", sagt Kern. Erst als die Internate nach der desaströsen EM 2000 Pflicht für alle Profivereine wurden, hat auch der HSV nachgezogen. In München kooperieren die Bayern mit dem Theodolinden-Gymnasium und jeweils einer Real- und Hauptschule in Taufkirchen, der HSV arbeitet mit der Stadtteilschule und dem Gymnasium Heidberg zusammen. Auffällig bleibt, dass in Bayerns Nachwuchsbereich mit sieben hauptamtlichen Coaches immer noch mehr als doppelt so viele Trainer, die einen Fußballlehrerschein haben, wie beim HSV angestellt sind. Immerhin haben sich mit Otto Addo (U19) und Rodolfo Cardoso (U23) zwei weitere HSV-Nachwuchstrainer für den im Mai beginnenden Kurs in Köln beworben.

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Man kann also trefflich darüber streiten, ob Glück, Geld oder Geschick für Bayerns herausragende Nachwuchsarbeit entscheidend war, unstrittig ist aber die Konstanz in der Chefetage. Während Kern seit 1998 Bayerns "Herr der Talente" ist, hat es beim HSV allein in den vergangenen vier Jahren vier Personalwechsel und somit auch neue Philosophien gegeben. Seit Frank Arnesen Sportchef beim HSV ist, sollen alle Nachwuchsteams ein 4-3-3-System in der Grundordnung spielen, Spielauffassung und Spielphilosophie wurden angeglichen. Arnesen kündigte zunächst an, besonders im Hamburger Umland und in Norddeutschland nach den Stars von morgen zu suchen, verpflichtete nun aber in der Winterpause für rund 500 000 Euro das Tschechen-Talent Dominik Masek, 16, und den 17-jährigen Dänen Christian Norgaard. "Es wird immer schwieriger, deutsche Talente zu bekommen", sagt Arnesen.

Das hat der FC Bayern längst erkannt. In dem grauen Flachdachhaus auf dem Klubgelände an der Säbener Straße, in dem 13 Internatsplätze für 15- bis 18-Jährige bereitstehen, haben auch fünf Jugendnationalspieler aus Österreich ihr neues Zuhause gefunden. Ihr Vorbild ist David Alaba, der als 16-Jähriger aus Wien nach München zog und 2011 zu Österreichs Fußballer des Jahres gekürt wurde. "Er war ein herausragendes Talent", sagt Kern, der im Sommer in Rente geht und vom früheren HSV-Torhüter Hans-Jörg Butt abgelöst wird. Ob er die Arbeit mit Bayerns Nachwuchsstars vermissen wird? "Wenn ich eines in meinem Job gelernt habe, dann das: Niemand wird jünger."