Hans-Dieter Hermann, Teampsychologe der deutschen Elf, über Motivation, Leistungsdruck und den Fall Robert Enke.

Erasmia. Seit fünfeinhalb Jahren arbeitet Diplompsychologe Hans-Dieter Hermann im Betreuerstab der deutschen Nationalmannschaft. Sein Aufgabenfeld: "Training im Kopf und für den Kopf", wie der 49-Jährige sagt. Vor Südafrika ist er besonders gefordert, hat aber einen "maximalen Siegeswillen" beobachtet.

Abendblatt: Herr Hermann, man spricht immer vom Leistungsdruck für Spieler. Spüren Sie den eigentlich auch?

Hans-Dieter Hermann : Nein. Weil wir erstens eine gute Stimmung haben und uns zweitens darauf konzentrieren, aufgabenorientiert zu handeln. Motivation ja, aber Leistungsdruck erlebe ich nicht. Wir gehen die WM mit Power an, und da spreche ich nicht nur für mich, sondern auch für die anderen Betreuer.

Sind Bedeutung und Anerkennung Ihres Aufgabenfeldes nicht in den vergangenen Jahren gewachsen?

Ich hatte in der Vergangenheit das Glück, von Trainer- und Spielerseite sehr viel Wertschätzung für meine Tätigkeit zu bekommen. Eine besondere und schwierige Situation war jedoch Robert Enkes Tod, wodurch ich auch als psychologischer und nicht als sportpsychologischer Ansprechpartner gefragt war. Insofern gab es vor allem in dieser Zeit eine gewisse Erweiterung meines Aufgabenfeldes. Jetzt haben wir eine WM vor der Brust und wissen, was das bedeutet. Wir wollen in Südafrika richtig Gas geben. Insofern ist das für mich eine freudvolle Normalität.

Normalität? Das scheint ziemlich niedrig angesiedelt, schließlich baut sich doch alles langsam auf ...

Sicherlich sind die Erwartungen von außen sehr hoch. Aber Sie haben ja nach mir gefragt. Schauen Sie: Wenn ein Chirurg einen unserer besten Spieler operiert, bleibt seine Aufgabe trotzdem die gleiche, sie steigert sich nicht dadurch, dass es sich um einen wichtigen Spieler handelt oder dadurch, dass er bald an einem wichtigen Punkt seiner Karriere stehen wird.

Sie sprachen eben Enke an. Alle reden jetzt vom WM-Titel oder umgekehrt vom möglichen Versagen, vom Druck. Würden Sie zustimmen, dass sich nach seinem Tod im Grunde nichts verändert hat?

Für mich persönlich ist die Diskussion danach phasenweise etwas in die falsche Richtung gelaufen, was auch die Erwartung betrifft, dass sich etwas ändern müsste. Manchmal hatte man durch Aussagen Außenstehender fast den Eindruck, Robert hätte sich wegen aggressiver Fans oder hohen Leistungsdrucks das Leben genommen. In erster Linie war er leider sehr, sehr krank. Als Person in der Öffentlichkeit ist es natürlich schwierig, sich zurückzuziehen, wenn die nächsten Aufgaben anstehen. Wenn ich es aber richtig einschätze, und ich meine auch seine Frau so verstanden zu haben, hat ihn der Fußball immer wieder im Leben gehalten und ihm sehr viel gegeben. Was sich definitiv geändert hat, ist, dass mich oder Kollegen Sportler schneller ansprechen, wenn sie Unsicherheiten oder Ängste haben, auch aus Profikreisen. Man gibt leichter zu, dass man sich eben nicht ständig unschlagbar, unangreifbar und unverletzbar fühlt. Das habe ich in der Bundesliga und auch in anderen Mannschaften erlebt. Es hat sich schon was getan.

Drehen wir den Spieß mal um. Welche Erwartungen haben Sie dann an die Öffentlichkeit, an Fans und Medien?

Zunächst einmal, dass die Fans und die Medien in Deutschland den Spielern ihre absolut positive Grundeinstellung abnehmen. Wille, Motivation sind da, wie man auch gegen Bosnien-Herzegowina gesehen hat. Jeder will dabei sein und sein Bestes geben. Es ist eine echte, aufrichtige und gute, mannschaftsorientierte Mentalität vorhanden, starker Charakter und maximaler Siegeswille. Diese Gedanken sollte man als Basis mitnehmen, wenn man sich die Spiele anschaut und einzelne Spieler kritisiert. Die sind heiß, die Jungs.

Woran machen Sie diesen Charakter, der ja gerade bei dieser personell geschwächten Mannschaft so entscheidend sein dürfte, außerhalb des Spielfelds fest?

Der Teamgedanke und der starke Charakter der Jungs stehen im Vordergrund, ganz klar. Zusammenspiel, Vertrauen und Kampfgeist auf dem Feld sind enorm wichtig. Sie erkennen diesen Zusammenhalt zum Beispiel in den Vorbereitungswochen daran, dass es nicht immer die gleichen Leute sind, die miteinander sprechen, etwas unternehmen oder etwas spielen. Dass viele miteinander Spaß haben, ohne dass es in der Mannschaft Underdogs gibt. Dass Dinge toleriert werden können, dass, wenn für einen etwas im Training nicht so einfach war, andere unterstützend hinzukommen, sich gegenseitig aufbauen. Das sind Dinge, die nicht unbedingt selbstverständlich sind, die man aber spürt.

Im Vergleich zur WM 2006 wird die Mannschaft diesmal viel mehr unter sich sein. Macht das einen Unterschied aus?

Richtig raus konnten sie 2006 in Deutschland auch nicht, weil sie vor Zuneigung förmlich erdrückt wurden. Aber es stimmt schon, dass die Mannschaft aufgrund der Gegebenheiten und der Jahreszeit weniger Ablenkungsmöglichkeiten haben wird. Im Rahmen eines mehrwöchigen Turniers sind gelegentliche Ablenkungen für viele aber auch wichtig. Das haben wir im Vorfeld bei unseren Vorbereitungen beachtet. Wir sind darauf eingestellt, so dass Lagerkoller nicht entsteht.

Inwieweit musste oder muss sich die Mannschaftsstruktur und -hierarchie ohne Michael Ballack neu finden?

Zunächst ist es sehr schade für ihn und die Mannschaft, dass er nicht dabei sein kann. So, wie die Mannschaft gestrickt ist und ich die einzelnen Spieler erlebe, entspricht der Vorschlag des Bundestrainers, die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen, auch der Führungsidee dieser Spieler, die dann wiederum als Multiplikatoren wirken. Michael hat einen ganz tollen Job gemacht als sehr klar Vorausgehender. Unsere anderen Führungsspieler mit Philipp Lahm als "Primus inter pares" tun das auch, sind aber etwas horizontaler angeordnet. Der Rugbyspieler Jonah Lomu hat das ganz treffend auf Sizilien skizziert, als dieser seine Mitspieler vor einem Turnier aufforderte: "Ich brauche euch nicht hinter mir, sondern an meiner Seite." Er hatte früher einmal genau die gleiche Situation erlebt: Kurz vor einer WM fiel der Kapitän aus, und er musste Verantwortung übernehmen. Wir haben da eine ganz schöne Verknüpfung gefunden zwischen dem Besuch von Jonah und dem Film "Invictus", in dem dieses Thema wieder aufgegriffen wurde. Dadurch haben sich die Botschaften gut verankert.

Ist das indirekt auch Ihre Antwort darauf, wie die vielen jungen Spieler möglichst schnell auf ein Turnier auf höchstem Niveau vorbereitet werden?

Da bin ich ohnehin sehr optimistisch, schließlich besitzen wir, denken Sie an die Bayern-Spieler, auch bei den jungen Spielern Fußballerfahrung auf höchster Ebene. Ein Manuel Neuer hat mit der U-21-Auswahl ein komplettes EM-Turnier bestritten, die Bremer und Hamburger spielen auf internationaler Ebene. Und wenn Sie sich den Mannschaftsrat anschauen, haben Sie fünf, die seit dem Confed-Cup 2005 alle großen Turniere mitgespielt haben. Dazu gibt es noch einige mit Erfahrung aus der WM 2006. In der Breite ist das recht ordentlich.

DAS GROSSE FRAGEZEICHEN MIRO KLOSE

2006 profitierte das Team von der Begeisterung der Massen. Fehlt das?

Das war 2006 ein enormer und wichtiger Faktor. Die Spieler wissen, dass die Fans diesmal nur ganz begrenzt mitreisen werden. Trotzdem werden sie mitkriegen, was zu Hause auf den Straßen los ist.

Macht es sich positiv bemerkbar, dass die Betreuung inzwischen vielfach auch in den Vereinen stattfindet?

Es ist sicher viel mehr Normalität eingekehrt. Keiner sagt mehr: O Gott, das ist der Psycho-Doc, ganz im Gegenteil. Die Tatsache, dass etliche Führungsspieler auch in den Medien über sportpsychologische Arbeit offen gesprochen haben, ist für andere motivierend, indem sie sich fragen: Warum benutze ich das nicht auch?

Ihre Arbeit ist langfristig angelegt, etliche Spieler sind aber erst seit kurzer Zeit dabei. Können Sie da überhaupt noch etwas bewirken?

Durchaus. Die meisten haben eine ganz starke Saison hinter sich. Nun geht es darum, dieses gute Gefühl in die Nationalmannschaft zu transportieren. Sie sollen wissen: Ich gehöre in dieses Team, ich bin hier wichtig, ich werde geschätzt für meine Stärken. Auch wenn nicht alles gelingt, werde ich weiter mitgenommen, so etwas müssen besonders die jungen Spieler von den Erfahrenen hören. Nur dann trauen sie sich auch etwas und können ihre Leistung abrufen. Kommunikative und Teambuilding-Prozesse sind Bausteine dafür.

Das klingt nach Kuschelatmosphäre. Befördern Sie aber im Grunde nicht den Leistungsgedanken als Sportpsychologe, indem Sie dafür sorgen, dass sie möglichst optimal funktionieren?

Ja, dafür bin ich da, meine Hauptaufgabe ist die Leistungsoptimierung. Es zählt nicht in erster Linie, sich wohlzufühlen oder verwirklichen zu können, sondern dass die Dinge hier funktionieren, insofern bin ich als Psychologe durchaus für die Leistung mitverantwortlich. Andererseits gibt es natürlich Phasen, in denen Spieler unter Druck geraten, sich nicht wohlfühlen, das kann auch mal was Privates sein. In diesen Fällen bin ich Psychologe im eigentlichen Sinne.

Wie erleben Sie Joachim Löw in den vergangenen Wochen?

Wie ruhig, konzentriert und gleichzeitig zielorientiert er auf die Ausfälle reagiert hat, unterstreicht seine Führungsstärke. Die Trainer hatten viele Eventualitäten schon mal durchdacht und waren deshalb nicht hilflos. Ganz allgemein haben wir Betreuer schon vor Monaten gespürt, wie sehr sich unser Trainer auf dieses Land, die Leute und die Weltmeisterschaft freut. Er hat seine in Südafrika gesammelten Eindrücke transportiert: Hier geht es nicht nur darum, die Spiele erfolgreich zu bestreiten, sondern auch, die WM in Südafrika zu erleben. Das war ein tolles Signal nach innen: Er lebt die Begeisterung.