In vier Tagen beginnt die Weltmeisterschaft in Südafrika. Ein junger Deutscher hat in den Slums von Kapstadt eine Fußball-Liga aufgebaut.

Kapstadt. Im Abendlicht sieht die Welt oft sanfter aus, doch selbst die untergehende Sonne kann das Elend von Khayelitsha nicht weichzeichnen. Bis zum Horizont drängen sich Hütten aus Wellblech, Pappe und Holz aneinander, aufgereihte Dixieklos säumen die Ränder des Slums.

Der Geruch von verbranntem Gummi mischt sich mit staubiger Wärme. Männer rauchen, ein paar Frauen schleppen Wassereimer über eine sandige Straße, jede hat ein Kind an der Hand oder ein Baby auf dem Rücken. Die Mütter sind selbst noch Mädchen.

Khayelitsha liegt rund 20 Kilometer südöstlich von Kapstadt, es ist das drittgrößte Township Südafrikas und entstand 1950, nachdem ein Apartheidsgesetz den Schwarzen eigene Wohngebiete zugewiesen hatte. Der Name stammt aus der Landessprache Xhosa, bedeutet "Neue Heimat". Khayelitsha ist eher Hölle als Heimat: Jeder Zweite der rund 1,5 Millionen Bewohner ist arbeitslos, jeder Dritte HIV-positiv, schon jetzt sind 14 000 Kinder Waisen. Es scheint, als habe Gott diesen Ort vergessen, gäbe es mittendrin nicht einen Platz, der alles Elend ein bisschen vergessen lässt: ein Fußballplatz.

Wie vom Himmel gefallen liegt er da, inmitten all der Hütten, ein 50 mal 80 Meter großer Kunstrasen, verblichen von der Sonne, aufgeteilt in vier Spielfelder. Jemand hat das Flutlicht angemacht.

An diesem frühen Donnerstagabend sind die U-15-Mannschaften, die Zehn- bis 15-jährigen, gegeneinander angetreten. Schon aus der Ferne hört man das dumpfe Geräusch von Füßen, die gegen Lederbälle treten und Kinder, die jubeln.

Etwa ein paar Hundert Kinder stehen am Spielfeldrand, feuern ihre Teams an. Spielerwechsel. Ein Junge in roten Shorts rennt vom Feld, reißt sich die Turnschuhe von den Füßen, ein anderer schlüpft rein, rennt los. Fußballschuhe sind ein Luxus, den sie sich teilen müssen.

Ein junger Mann in Jeans lehnt am Zaun und beobachtet das Treiben. Florian Zech sticht aus der Menge heraus. Er ist weiß. Gewöhnlich meiden Weiße das schwarze Khayelitsha, zu groß ist die Gefahr, überfallen zu werden. Doch "Mister Flo", wie ihn alle nennen, genießt einen besonderen Schutz. Die Menschen wissen, dass sie dem 23-jährigen Deutschen nicht nur ihren Fußballplatz verdanken.

"Für die Kinder ist Fußball der einzige Spaß im Leben und für viele auch die einzige Chance", sagt Florian. Vor vier Jahren machte er seinen Zivildienst in dem rosafarbenen Waisenheim von Khayelitsha. Er betreute die Kinder bei den Hausaufgaben, die kranken fuhr er zum Arzt, mit den gesunden spielte er Fußball. "Dabei ist mir jedes Mal aufgefallen, dass sie plötzlich zuhörten, wenn ich ihnen etwas erklärte", erinnert sich Florian. "Fußball ist ein Instrument, durch das sie viel lernen können. Selbstbewusstsein, Respekt, Teamfähigkeit, Verantwortungsgefühl und natürlich Regeln und Grenzen zu achten."

Eines Tages sei ihm dann die Idee mit der Fußball-Liga für Waisenkinder gekommen, erzählt der Lehrersohn aus Prien am Chiemsee. Er habe dann alle Heime und sozialen Einrichtungen in der Region gebeten, Mannschaften aufzustellen. Die Organisation habe er völlig unterschätzt, sagt er rückblickend. Fast beschämt klingt es, als er hinzufügt: "Den Erfolg aber auch."

Im März 2007 fand das erste Turnier statt, verteilt auf mehrere Sportplätze in Kapstadt. Zehn Kinderheime machten mit. "Ich vergesse nie, wie erstaunt meine Kinder waren, als sie gesehen haben, dass es auch weiße Heimkinder gibt", sagt Florian. Die Erinnerung rührt ihn noch immer. Dass die Teams nicht nur Punkte für Tore, sondern auch für Fair Play bekamen, war für die Kinder ein besonderer Ansporn.

Bald darauf kehrte Florian nach Deutschland zurück. "Ich wollte ursprünglich mal Jura studieren", sagt er und schüttelt dabei lächelnd den Kopf, als wundere er sich noch immer darüber, welche Wendung sein Leben dann nahm. Sechs Wochen hielt er es am sauberen Chiemsee aus, dann stieg er wieder in den Flieger und machte im Dreck von Khayelitsha weiter, wo er aufgehört hatte. "Ich konnte die Kinder nicht vergessen."

In den vergangenen drei Jahren hat Florian viel erreicht: Inzwischen gibt es drei Ligen, in denen 42 Jungs-, aber auch Mädchen-Teams aus 33 sozialen Einrichtungen spielen. Jedes Kind darf mitspielen, sofern es regelmäßig zur Schule geht und keine Drogen nimmt. Seit Februar 2009 ist das Fußballfeld in Khayelitsha das Zentrum vieler Aktivitäten. Florian fand eine amerikanische Stiftung, die das Vier-Millionen-Rand-Projekt, das sind umgerechnet rund 400 000 Euro, finanzierte. "Seitdem ist hier jeden Tag WM", sagt er. 550 Spiele fanden im vergangenen Jahr statt.

Schrilles Pfeifen ertönt. Abpfiff. Auf allen vier Feldern stürmen die Spieler auf die Schiedsrichter zu. Sie wollen sehen, wie viele Fair-Play-Punkte die Schiedsrichter ihnen für Teamarbeit und gutes Verhalten eintragen. "Die Kids wissen, dass es als Fair-Play-Trophäe in diesem Jahr WM-Tickets gibt", sagt Florian und grinst.

"Ich will, dass die Kinder lernen, in erster Linie an sich selbst zu glauben", sagt Florian am nächsten Morgen. Deshalb nannte er sein Projekt auch "Amandla Ku Luthsa", Stärke der Jugend. Florian sitzt in einem Café im Zentrum Kapstadts, unweit seiner Wohngemeinschaft, trinkt einen frisch gepressten O-Saft. Jungs in bunten Badeshorts und Flip-Flops kommen herein, kaufen Bagels, sie sind auf dem Weg zum Wellenreiten.

Florians Tag ist voller Termine. "Die Kinder aus den Townships erfahren jeden Tag Gewalt, sie haben kaum positive Vorbilder, das ist ein wesentliches Problem", sagt er.

Um diese zu schaffen, hat er ein spezielles Ausbildungsprogramm entwickelt: Jugendliche ab 15, die in ihren Einrichtungen durch gutes Sozialverhalten auffallen, können eine internationale Fußballtrainerlizenz machen und bekommen Computerschulungen und Bewerbungstrainings, um ihre Chancen auf dem Jobmarkt zu steigern.

30 Jugendliche, acht Mädchen und 22 Jungs, werden inzwischen in dem "Social Leader"-Programm ausgebildet. Einer von ihnen ist der 19-jährige Michael. Er wuchs in Heideveld auf, einem Armenviertel, in dem viele Coloured-People wohnen. Zweimal die Woche trainiert er die Kinder aus seinem Viertel auf einem Fußballacker hinter seiner ehemaligen Schule, ein Komplex aus heruntergekommenen hellgelben Flachdachgebäuden. Michael trägt eine ballonseidene Sporthose und ein blaues T-Shirt, die kleinen Hobby-Fußballer springen an ihm hoch. "Michael, Michael!", ruft ein Junge, der etwas abseits barfuß mit einem Ball jongliert. "Du wirst mal ein Profi", ruft ihm sein Trainer zu. Der Junge strahlt.

Lange Zeit bestimmten Drogen und Gewalt Michaels Leben. Seine Mutter zog ihn und seine beiden Brüder in einer Ein-Zimmer-Bretterbude groß, der Vater ist tot. Als auch noch seine Großmutter starb, der einzige Mensch, der sich je um ihn gekümmert habe, schlug seine Traurigkeit in Aggression um. "Ich habe manchmal Kleber geschnüffelt, bis ich nicht mehr gucken konnte", sagt Michael. Im Rausch habe er schon ein paar Mal mit einem Messer zugestochen, gesteht er. Ob er dafür ins Gefängnis musste? Michael schaut, als müsse er erst überlegen, ob die Frage ernst gemeint ist. "You know that this is South Africa, right?", fragt er dann. Du weißt schon, dass dies Südafrika ist, oder? "Hier macht jeder sein eigenes Gesetz."

Im vergangenen Jahr wurden fast 50 Menschen pro Tag in Südafrika ermordet, 121 000 schwere Raubüberfälle verzeichnete die Polizei. Die Aufklärungsrate ist katastrophal, die Townships sind unübersichtlich, die Polizisten fürchten oft um ihre Sicherheit.

Mithilfe einer christlichen Organisation schaffte Michael den Entzug. Durch das "Social Leader"-Programm sehe er zum ersten Mal eine Perspektive für sich, sagt Michael.

"Sein ehemaliger Klassenlehrer kann nicht glauben, was aus ihm geworden ist", sagt Florian. Nach dem Frühstück ist er in sein Büro gefahren. Er hat ein ehemaliges Klassenzimmer gemietet, es liegt im ersten Stock einer alten Schule im Zentrum Kapstadts. Drei Schreibtische stehen darin, an den Wänden hängen Fotos von Turnieren, auf dem hellen Linoleumboden liegen Fußbälle, die darauf warten, aufgepumpt zu werden.

An einem Tisch sitzt ein Mann in weißem Hemd und Leinenhose. Es ist Allen da Silva. Seit 25 Jahren arbeitet der 42-jährige Sozialarbeiter mit Kindern und Jugendlichen, seit zwei Jahren unterstützt er Florians Projekt. "Soccer is the Key", glaubt der Südafrikaner. Fußball sei der Schlüssel.

Gemeinsam haben sie Übungen entwickelt, wie die Kinder während des Fußballtrainings in ihrer Sozialkompetenz gestärkt werden. Allen da Silva kramt in einer Schublade, holt ein DIN-A4-Blatt raus. "Life Skills" steht darauf, frei übersetzt: fürs Leben lernen. Den gleichen Zettel hatte Michael auf seinem Acker in Heideveld in der Hand.

"Die Trainer sind die Multiplikatoren. Die Idee ist, Situationen vom Fußballplatz auf den Alltag zu übertragen", erklärt Allen da Silva. "Beispiel Schiedsrichter: Auf dem Platz müssen sich die Kinder nach seinen Entscheidungen richten. Im echten Leben haben sie aber oft Schwierigkeiten mit Autoritäten." Mithilfe der "Social Leader", die zugleich ihre Trainer sind, lernen die Kinder, dass Menschen, die ihnen im Alltag Regeln vorgeben, nichts anderes als Schiedsrichter sind, die sie akzeptieren müssen. "Fußball ist ein Kommunikationsmittel, das die Kinder gut verstehen, weil man viel mit Bildern arbeiten kann", sagt Allen da Silva.

Um die Kinder spielerisch über Aids aufzuklären, müssen sie sich im Training in einer Reihe aufstellen und hinter ihrem Rücken einen Tennisball weitergeben. Jedes Kind tritt dann einmal vor und soll sagen, wer gerade den Ball hat. "Das kann man natürlich nicht", sagt Allen da Silva. "Anhand dieser Übung verstehen sie, dass man HIV den Menschen eben nicht ansehen kann, was viele Menschen hier leider immer noch glauben."

Florian legt eine Statistik auf den Tisch. Mehr als 2000 Kinder in Kapstadt erreicht der ehemalige Zivi inzwischen mit seinem Projekt. Seit diesem März ist "Amandla Ku Lutsha" als Non-Profit-Organisation in Südafrika registriert. Knapp 50 000 Euro Spenden hat Florian im vergangenen Jahr gesammelt, dadurch kann er neben Allen noch drei andere Sozialarbeiter beschäftigen. Dann holt er ein Papier, auf das er besonders stolz ist. Es ist ein offizielles Empfehlungsschreiben von Willi Lemke, dem Sonderberater des Uno-Generalsekretärs für Sport im Dienste von Frieden und Entwicklung. Dieser lobt nachdrücklich das ganzheitliche Konzept von "Amandla Ku Lutsha".

Um die Männer von Trinken und Gewaltexzessen abzuhalten, veranstaltet Florian auch eine Fußball-Nachtliga. Jeden Freitag von 18 Uhr bis Mitternacht können die Männer aus dem Township mit ihren Mannschaften auf dem Feld in Khayelitsha gegeneinander antreten. Der 29-jährige Shaun ist jede Woche mit seinem Verein US Barca dabei. Der Name ist angelehnt an den FC Barcelona, US steht für die Township-Abschnitte U und S, aus denen die Spieler kommen. "Fußball ist wie Meditation", sagt Shaun. "Ich kann darüber Frust abbauen, und man spürt einen Zusammenhalt, den es hier sonst nicht gibt."

Als er hört, dass Florian bald nach Deutschland zurückgehen will, wirkt er fast betroffen. Doch Florian macht ihm Mut und ein bisschen auch sich selbst. "Ich glaube, dass das Projekt unter Allens Leitung Ende des Jahres allein läuft", sagt er. Mit einem alten Schulfreund hat Florian im März in Deutschland den Verein "Amandla Edu Football" gegründet. Edu steht für "Education, Bildung. Zu zweit wollen sie das Konzept nun in andere Entwicklungsländer tragen. Jura will er nicht mehr studieren.

Zurzeit sei er sehr im Stress, sagte Florian gestern am Telefon. Die WM-Organisation sei anstrengender, als er gedacht habe. Seine neueste Idee: Entsprechend der Teams und der Gruppierungen spielen die Kinder in Khayelitsha die WM nach. Es gibt Punkte für Tore und Fair Play, wie immer, aber auch für einen Vortrag, den jede Mannschaft über das Land halten muss, welches sie repräsentiert. Die Sieger bekommen einen WM-Pokal, Trikots und Fußballschuhe. Jeder Spieler ein eigenes Paar.