In ihrem Dienstwagen spricht die erste deutsche Ministerin mit Migrationshintergrund über Amt, Anfängerfehler und ihren politischen Alltag.

Hannover. Der schwere BMW läuft auch bei hohem Tempo wie auf Schienen - kein Wunder, Fahrer und Fahrzeug sind seit Ende April auf der Autobahn 7 Hannover-Hamburg zu Hause, kennen jedes Schlagloch, jede Staufalle. Nur der Termin ist absolute Ausnahme von der Regel.

Statt am Montagmorgen von Hamburg nach Hannover und am Freitagabend retour ist die niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan mitten in der Woche auf dem Weg zu Sohn und Ehemann, sagt fast entschuldigend: "Das ist eine Besonderheit, mein Mann hat heute Geburtstag."

Am Mobiltelefon drückt sich die 39-Jährige, die erste Frau mit Migrationshintergrund und die erste Muslima in einen solchen Amt , beim Anruf der Familie etwas unkonkret aus, um die absehbare Verspätung zu kaschieren: "Wir sind unterwegs." Tatsächlich ist sie wieder mal eine satte halbe Stunde später losgekommen als geplant, der Fahrer drückt auf die Tube, aber vielleicht wegen des Journalisten an Bord hält er sich dennoch peinlich genau an alle Tempolimits.

Dabei könnte auch bei Überschreitungen eigentlich nichts passieren: Vorne am Armaturenbrett ist eine Plakette mit dem Heiligen Christophorus angebracht. Der hilft laut katholischer Kirche nicht nur bei der Überwindung von Flüssen, sondern ist auch der Schutzpatron der Reisenden schlechthin.

Das Walsroder Dreieck ist ausnahmsweise staufrei, die CDU-Ministerin hat sich hinten rechts eingerichtet, das Auto ist in der neuen, gewöhnungsbedürftigen Umgebung Niedersachsen längst ein Stück Büro. Kein Wunder: Seit ihrer Vereidigung Ende April ist sie bis zu 3000 Kilometer pro Woche in diesem Auto unterwegs, um das Flächenland Niedersachsen zu begreifen.

Der Terminkalender dieser Woche weist Festreden, Grußworte, Gespräche, Festvorträge, Sitzungen (Psychiatrieausschuss) und eine Sonderkonferenz der Bauminister in Berlin aus, die anderen Orte sind Osnabrück, Braunschweig, Cloppenburg, ein Bauernhof bei Algermissen im Landkreis Hildesheim, Celle und natürlich immer wieder die Landeshauptstadt Hannover.

In Berlin geht es um Kürzungspläne des Bundes bei der Städtebauförderung, die Ministerin ist nach vier Monaten im Amt im Thema: "Wichtig für die dauerhafte Sicherung der Infrastruktur in einem Flächenland wie Niedersachsen, die Kürzungen des Bundes sind ein Problem." Draußen zieht die Lüneburger Heide vorbei, es ist Blütezeit, Aygül Özkan kriegt es nicht mit, weil sie jetzt gerade den demografischen Wandel am Wickel hat und über die Folgen von der Hausarztversorgung bis zum Altenheim spricht: "Gesundheit ist mein Bereich." Es folgen Daten, Zahlen, Fakten. Die Seiteneinsteigerin in die Politik hat schnell und viel gelernt.

Sie nennt es "faszinierend", wie unterschiedlich die Herausforderungen je nach Landesteil sind. Regionen wie der Harz mit erwartetem Bevölkerungsrückgang um über 20 Prozent binnen weniger Jahre erfordern völlig andere Konzepte als etwa Landkreise in der Region Weser-Ems mit rekordverdächtig hohen Geburtenzahlen und Zuzug. Zwischen zwei Sätzen nippt sie kurz an der Flasche mit Mineralwasser, für die der fürsorgliche Fahrer gesorgt hat.

Sie ist schon vor der Vereidigung mit ihrer Interview-Äußerung, Kruzifixe hätten nichts in Schulen zu suchen, angeeckt, obwohl sie damit eigentlich nur wiederholt hat, was das Bundesverfassungsgericht vor Jahren entschieden hat. Ihr Entdecker, der ehemalige Minister- und heutige Bundespräsident Christian Wulff, hat sie - das grundkatholische Oldenburger Münsterland drohte mit Revolution - ins Fegefeuer einer offiziellen Entschuldigung im Landtag geschickt. Dann haben die Medien ihre Mediencharta für den künftigen Umgang von Zeitungen und Sendern mit Integrationsthemen als Eingriff in die Pressefreiheit attackiert. Über typische Anfängerfehler einer Seiteneinsteigerin spötteln sie in der CDU-Fraktion im Landtag.

Sie selbst schließt auf Höhe Ausfahrt Soltau das Kapitel energisch ab: "Das ist Vergangenheit, ich kümmere mich um Zukunft."

Die Gegenwart sind viele Autokilometer und vorsichtigere Auftritte selbst im Umgang mit dem umstrittenen Buchautor und Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin im Fernsehen. Dafür punktet sie selbst bei Tempo 180 (keine Geschwindigkeitsbegrenzung weit und breit) mit Sachkenntnis beim Landeskrankenhaus Moringen, der weiteren Krankenhausbedarfsplanung oder wonach man auch immer fragt. Die nach eigener Einschätzung alles andere als strenggläubige türkischstämmige Muslima, Juristin und zuvor leitende Angestellte in der freien Wirtschaft Özkan hat ihre Anfangslektionen gelernt und ihr Selbstbewusstsein bewahrt als Chefin eines Ministeriums, das wie ein Gemischtwarenhandel wirkt, zuständig für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration.

Die Vergangenheit der neuen Chefin in der Wirtschaft soll die Ministerialbürokratie in Hannover durchaus spüren. "Ich fordere Engagement und baue auf Kreativität", sagt sie über ihren Anspruch an die Mitarbeiter. Und der Anspruch an sich selbst? "Man muss führen können, auch bei knappen Mitteln Visionen umsetzen."

Im Chefbüro ist die Atmosphäre deutlich nüchterner als früher, als Ursula von der Leyen hier Sinn fürs Dekorative entfaltete. Auf dem Schreibtisch steht ein Foto des Sohnes, ihre Stifte hat sie mitgebracht ("Montblanc, kommen wie ich aus Hamburg"), ansonsten wenig. "Ich mag es gerne aufgeräumt, schließlich ist mein Sternzeichen Jungfrau." Bei der Arbeit helfen Kaffee und stilles Wasser.

In der kleinen Wohnung in Hannover dagegen gibt es morgens und abends Tee: "Brauche ich zum Wachwerden und Abschalten und Nachdenken." Viel wichtiger aber sind jeden Morgen und Abend die Telefonate mit dem achtjährigen Sohn, "ein Stich Sehnsucht inklusive". Gerade jetzt in der Einarbeitungsphase ist für sie die hannoversche Wohnung hilfreich zwecks ungestörten Aktenstudiums am Abend. Aber das hat eine Kehrseite.

Da war, vor wenigen Tagen, der stolze Anruf des Sohnes: "Eben Klassensprecher geworden." Da ist dann die Distanz sogar noch weit größer als die 165 Autobahnkilometer: "Jetzt nicht da zu sein war ein kleiner Stich, weil ich doch so stolz war." Auf Höhe Lüneburg lässt sie sich unwillig abbringen von weiteren Ausführungen zur Integration und verrät, dass es mindestens bis jetzt gut geht mit den morgendlichen und abendlichen Anrufen, dem Hort, dem tollen griechischen Kindermädchen, den Großeltern als Reserve und vor allem dem Mann, der als niedergelassener Gynäkologe beruflich zurückgesteckt hat, damit sie auf Achse sein kann. Dass der Sohn es so gelassen nimmt, hat auch mit ihrer eigenen beruflichen Vergangenheit zu tun: "Das kennt er, ich war auch früher schon viel beruflich und politisch unterwegs."

Die Wochenenden hält sie sich, so weit das irgend geht, frei, und wenn es dann doch nicht klappt, kommen Mann und Sohn nach Hannover. So kennt der Achtjährige schon das anspruchsvolle hannoversche Sprengelmuseum, und der Drittklässler "schwört auf den besten Sushi-Laden in Hannover". Der Zoo "kommt dran, wenn endlich das Wetter besser wird". Dass das alles nicht einfach wird, war ihr klar, als der damalige Ministerpräsident Wulff im April anfragte: "Mein Mann und ich haben das ausführlich besprochen, gemeinsam entschieden."

Was Hamburg für sie bedeutet, will der Journalist in Höhe Harburger Berge wissen. Die niedersächsische Sozialministerin kaut ein bisschen rum auf der Frage, aber dann lächelt sie. Die Autobahn schwingt sich eben runter in die Stadt, und Aygül Özkan erzählt von den Sommerferien als Kind, die ganze Familie am ersten Tag gleich los mit dem Auto über den Balkan in die Türkei und "auf den letzten Drücker vor dem ersten Schultag zurück". Und dann schaut sie doch mal aus dem Fenster, weist auf Hafen, Wasser, Terminals, Schiffe: "Da wusste ich dann immer genau, ich bin wieder zu Hause. Und das war gut."