Chemie und Spritze - oder Kräutertee und Akupunktur? Immer mehr Menschen suchen heute sanfte Alternativen zur Schulmedizin -bei der Naturheilkunde. Die ABENDBLATT-SERIE “Natürlich gesund“ erklärt, was wirklich hilft, was eher schadet. Sie informiert über Therapien, Chancen und Risiken, nennt Ansprechpartner, gibt praktische Tipps - und bringt Sie auf Trab.

Johanniskraut gegen Depressionen, Massagen gegen Verspannungen und Akupunktur gegen Schmerzen - Naturheilkunde liegt im Trend. Neun von zehn Menschen, das zeigte eine Allensbach-Umfrage, haben sich schon einmal mit Akupunktur, Naturheilkunde und Hypnose beschäftigt. Kein Partygespräch ohne Geheimtipps von Freunden, denen dies oder jenes sensationell geholfen hat. Adressen viel versprechender Naturheilkundler machen die Runde, und Omas Hausmittel werden wieder zu Trendrezepten. Genauso groß wie das Interesse an sanften Heilmethoden und gesunder Lebensführung ist aber oft die Ratlosigkeit: Was hilft mir wirklich? Was ist nur teurer Unsinn, von dem ich lieber die Finger lassen sollte? Wo finde ich Informationen und die richtigen Therapeuten? Deshalb gibt es im Hamburger Abendblatt in den kommenden Wochen die neue 18-teilige Medizin-Serie "Natürlich gesund". Dort erfahren Sie, gegen welche Krankheiten welches Kraut gewachsen ist, welche Methoden wirksam sein können. Eine Fülle von Meldungen beleuchtet neueste Erkenntnisse rund um die großen Volkskrankheiten. Wir haben Info-Telefonnummern, Websites und Buchtipps recherchiert, mit denen Sie konkrete Antworten auf Ihre ganz persönlichen Fragen finden. Wir sagen Ihnen, bei welchen Behandlungen die Krankenkassen zahlen und wo nicht. Und praktikable Tipps verraten Ihnen, was Sie sofort tun können, um Ihre Beschwerden zu lindern oder ihnen langfristig vorzubeugen. Wer bei der Naturheilkunde Rat sucht, hat eine ganz bestimmte Hoffnung: 74 Prozent der von Allensbach Befragten erwarten von der Naturheilkunde weniger Nebenwirkungen als von manchen Verfahren der Schulmedizin. Wer allerdings die Naturheilkunde ausschließlich als "sanfte Medizin" versteht, liegt nicht immer richtig. "Es gibt pflanzliche Arzneimittel mit gravierenden Nebenwirkungen", betont Dr. Helmut Brinkmann, Chefarzt der Abteilung für Naturheilverfahren, Physikalische und Rehabilitative Medizin am Hamburger Klinikum Nord (Ochsenzoll). Zum Beispiel kann Atropa belladonna, der Wirkstoff der Tollkirsche, tödlich sein. Auch das Herzmittel Digitalis aus dem Fingerhut ist alles andere als harmlos. "Fast jedes Medikament, das eine nachgewiesene Wirkung hat, kann auch Nebenwirkungen entfalten", so der Mediziner. "Die Wirksamkeit pflanzlicher Arzneimittel ist meist nicht so unmittelbar und stark wie die von chemisch synthetisierten Medikamenten; ähnlich verhält es sich bei Nebenwirkungen", erklärt Brinkmann. "Oft enthalten Beipackzettel den Hinweis: ,Keine Nebenwirkungen bekannt.' Aber da würde ich kritisch fragen: Ist dann auch die Wirksamkeit sicher vorhanden?" Auch bei Naturheilverfahren sind Gegenanzeigen zu beachten. Dennoch vertrauen immer mehr Menschen der Naturheilkunde und stehen der Schulmedizin kritisch gegenüber. "Sie bemängeln, dass sie den Menschen nicht mehr wahrnimmt, alles macht, was machbar ist, ohne zu sehen, ob das Leben für den Patienten dann überhaupt noch lebenswert ist", sagt Dr. Brinkmann. Deshalb werden Therapiemethoden, die den Menschen als Ganzes ins Zentrum der Behandlung stellen, immer beliebter, weiß der Naturmediziner, der auch Facharzt für Innere Medizin ist. Er möchte beides verbinden. "Die Schulmedizin will alles genau erforschen, um festzustellen, welche organische Ursache eine Krankheit hat. Die Naturmedizin bezieht auch philosophische Aspekte in die Behandlung mit ein", sagt Brinkmann. Als Beispiel nennt er das Prinzip der traditionellen chinesischen Medizin: Yin und Yang. Gegensätze auf verschiedenen Ebenen sollen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. "Wir leben oft ungesund, ernähren uns verkehrt, bewegen uns nicht richtig, achten nicht auf genügend Schlaf. Körper und Seele wieder in innere Harmonie zu bringen, ohne dass damit mehr Askese verbunden sein muss, ist das Ziel der Naturheilkunde." Ein strenger Schulmediziner würde bei einer Angina pectoris einen Herzkatheter legen und eine verengte Arterie wieder weiten. Der Naturheilkundler erkenne das zwar an, suche aber zugleich nach den Ursachen: Warum leidet dieser Mensch an dieser Krankheit? Bekommt er sein Leben nicht in den Griff? Weshalb ist er übergewichtig? Ist er essgestört? Bewegt er sich zu wenig? Dahinter steht die Auffassung: Krankheit ist nicht einfach Schicksal, sondern beeinflussbar. Jeder kann für sich Verantwortung übernehmen und versuchen, seine Lebensgewohnheiten zu ändern. Die Motivation, etwas zu ändern, muss allerdings vom Patienten selbst kommen. Doch auch dann ist Naturheilkunde kein Allheilmittel. "Sie stößt immer da an ihre Grenzen, wo zum Beispiel Operationen oder Herzkatheter nötig sind. Jemand mit einer Lungenembolie gehört auf die Intensivstation. Je akuter und dramatischer jemand erkrankt ist, desto eher ist er weit ab von der Naturmedizin. Bei Verhaltensänderungen kann Naturmedizin später wieder eine Rolle spielen", erklärt Brinkmann. Traditionell erzielt sie ihre besten Ergebnisse bei funktionellen Beschwerden wie Magen-Darm-Störungen, Verstopfung oder Reizdarm, psychosomatischen und chronischen internistischen Erkrankungen. "Je weniger im Körper irreparabel geschädigt ist, desto eher können Naturheilverfahren etwas ausrichten. Gelenkrheuma wird man nicht mehr los, man kann es jedoch damit behandeln und lindern." Für die Therapie unterschiedlichster Beschwerden stehen bewährte Methoden zur Verfügung: "Unstrittig sind die klassischen Naturheilverfahren wie Ernährungstherapie, Phytotherapie, Bewegungstherapie, Wärme, Kälte, Physiotherapie, Massagen und Elektrotherapie. Akupunktur gehört zwar nicht zu den klassischen Methoden, aber die Weltgesundheitsorganisation hat bisher mehr als zwanzig Erkrankungen aufgelistet, bei denen sie als hilfreich anerkannt wird", sagt Brinkmann. Doch nicht alles, was sich Naturmedizin nennt, hat einen seriösen Hintergrund. Auch in der Allensbach-Studie wird kritisiert, dass sich auf diesem Gebiet viele Pfuscher und Scharlatane tummeln, die die Ängste von Kranken ausnutzen. Wie kann man sich vor ihnen schützen? "Die Kranken sollten sich vom gesunden Menschenverstand leiten lassen. Je mehr einer verspricht, desto skeptischer muss man sein - zum Beispiel, wenn jemand eine Methode als Allheilmittel anpreist und viel Geld dafür verlangt. Mit einer Methode alles machen zu wollen ist schon suspekt. Ein anderes Beispiel ist die Krebstherapie: Diese Patienten sind todunglücklich, dem Tode oft sehr nah und offen für alles. Wenn sie an selbst ernannte Experten geraten, die mit irgendwelchen abstrusen Außenseitermethoden Heilung versprechen, finde ich das unverantwortlich", sagt Brinkmann. Um auf der sicheren Seite zu sein, verweist Brinkmann auf Ärzte mit der Zusatzbezeichnung "für Naturheilverfahren". Davon gab es Ende 2001 in Hamburg 289. Ende 1998 waren es noch 243. Die Zusatzbezeichnung "Arzt für Naturheilverfahren" ist geschützt und an bestimmte Kriterien gebunden: Studium der Humanmedizin, vier Lehrgänge à 40 Stunden, drei Monate praktische Ausbildung, zwei Jahre Berufserfahrung. Dann kann man nach dem Grundsatz behandeln, den sich die Abteilung im Klinikum Nord zum Prinzip gemacht hat: "Die Therapie so naturgemäß wie möglich und so schulmedizinisch medikamentös wie unbedingt erforderlich."