Ganz schön faul sind wir geworden. Körperliche Anstrengung hat sich nach und nach aus unserem Alltag geschlichen. Die schlechte Nachricht: Je bequemer wir werden, desto weniger geht. Die gute Nachricht: Es ist nie zu spät, neu anzufangen. Sanfter Sport bringt in jedem Alter positive Veränderungen - für Körper und Geist.

Ach, ist das herrlich! Nach einem langen Arbeitstag den Rücken in den Sessel plumpsen lassen, die Beine hoch, das Bier in Greifweite. Und dann zappen. So lange, bis man wegsackt und irgendwann ins Bett schlurft. Erholsam? Klar, schließlich ist ein TV-Abend das einfachste Abhängprogramm, das es gibt. Der Haken ist nur: Es ist völlig passiv und darum ungeeignet, Körper und Geist echte Entspannung zu verschaffen. Der Geist ist von der Bilderflut gestresst, auch wenn wirs kaum anders kennen; der Körper schaltet auf ein kümmerliches Programm herunter. Er spart am Wertvollsten, was er hat - dem Sauerstoff. Beim Fernsehen verbraucht Ihre Lunge einen Viertelliter Sauerstoff pro Atemzug, beim Joggen acht Mal so viel. Joggen, schon wieder Joggen! Wer momentan den Nutzen von Bewegung propagiert, rennt offene Türen ein. Die Fitnessindustrie boomt, Men's Health und Eiweißriegel verkaufen sich prächtig. Die Teilnehmermassen der städtischen Marathonläufe bringen die Organisatoren ans Limit ihrer Möglichkeiten, und wer seinen Urlaub ohne Wellness verbringt, ist ein bisschen von gestern. Doch der Eindruck täuscht. Die Zahl der Sporttreibenden stagniert seit Jahren. Nur jeder zehnte Erwachsene zwischen 35 und 60 bringt es auf zwei Stunden moderater Bewegung pro Woche. Bei den über 50-Jährigen sind nicht einmal fünf Prozent aktiv. Wir sind, allen Appellen zum Trotz, ein einig Volk von Stubenhockern. Körperliche Bewegung ist fast vollständig aus unserem Alltag verschwunden. Während kleine Kinder noch die längste Zeit des Tages rennen und toben, schleicht sich spätestens mit Schule und Berufstätigkeit der Spieltrieb aus unserem Leben. Wir bleiben wie angewurzelt sitzen. Die Kommunikationstechnologie hat die Abläufe im Büro verändert. Wir schicken E-Mails an Kollegen, anstatt über den Flur zu gehen. Wir rufen an, wir bestellen ins Haus, wir lassen kommen. Der Fahrstuhl ist kaputt? Eine Frechheit! Für viele Menschen ist es akzeptabler, eine halbe Stunde nach einem Parkplatz zu suchen, als zehn Minuten zum Auto zu gehen. Und warum Tüten schleppen, wenn man beim Discounter auf den Hof vorfahren kann? Wir geraten aus der Puste, wenn wir zum Bus rennen. Also rennen wir nicht mehr zum Bus. Es sind so unendlich viele kleine Bequemlichkeiten, die sich im Laufe der Zeit summieren - zu einem immer deutlicher schrumpfenden Bewegungsradius. Aus evolutionsbiologischer Sicht ist der Mensch - zunächst - entschuldigt. Schließlich ist die Faulheit eines der ältesten biologischen Programme. In seinen Frühzeiten trieb den Homo sapiens nur die Sorge um: Wie kriege ich genügend Speck auf die Rippen? Die Antwort lautete: Iss alles, was du in die Finger kriegen kannst, und beweg dich so wenig wie möglich. Die uralte Botschaft der Gene steckt immer noch in uns. Nur dass sie heute keinen Sinn mehr ergibt. Dass der sesshafte Mensch sich regen muss, um gesund zu bleiben, wussten schon die Griechen. Ihr Schönheitsideal waren athletische Körper mit gut ausgebildeten Muskeln - bei Männern wie bei Frauen. Den wissenschaftlichen Beweis, dass Sport und Gesundheit zusammenhängen, trat man jedoch erst im 20. Jahrhundert an. In den 50er-Jahren stellte sich in London heraus, dass Busschaffner besonders fit waren. Der Grund: Sie stiegen den ganzen Tag im Doppeldecker treppauf und treppab. Seither haben unzählige Studien belegt, dass moderater Sport die Leiden der postindustriellen Gesellschaft lindert: das Risiko von Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs und Diabetes sinkt jeweils um ein Vielfaches. Im Krankheitsfall beschleunigt Ausdauertraining die Heilung, stärkt das Immunsystem und verkürzt die Rekonvaleszenz. Inzwischen wird sogar der Mangel an Bewegung selbst als Risikofaktor für Krankheiten angesehen. Gut, bis zum Alter von 30 kann einem das alles egal sein. Die Jugend steckt Fehlernährung und Bewegungsmangel zunächst folgenlos weg. Zehn Jahre später aber holen uns die Sünden ein. Wer nichts tut, reicht auf einmal nicht mehr im Stehen zu den Schnürsenkeln oder verzieht sich beim kleinsten Anlass das Kreuz. Wir halten das dann für eine unvermeidliche Folge des Alterns. Lässt man dem Schicksal seinen Lauf, ist das Ergebnis in der Tat verheerend. Der durchschnittliche Bewohner eines Industriestaates verliert bis zum 70. Lebensjahr ein Drittel seiner Muskelkraft. Ungenutzte Muskeln schwinden wie unter einem Gipsverband; der Mensch legt sich selbst lahm. Die Kraft lässt nach, er fühlt sich schlapp. Das Skelett wird nicht mehr ausreichend gestützt, dadurch werden die Gelenke übermäßig belastet und verschleißen. Rückenschmerzen, Bandscheibenschäden und Arthrose sind das Ende vom Lied. Je älter wir werden, desto weiter öffnet sich die Schere zwischen Aktiven und Trägen. Das Merkwürdige ist: Viele sehen dem eigenen Untergang jahrzehntelang tatenlos zu. Nicht, dass wir kein schlechtes Gewissen hätten. Die meisten von uns haben auch eine ungefähre Ahnung, was sie in ihrem Leben ändern müssten. Joschka Fischers langer Lauf zu sich selbst steht bei vielen im Regal, und das neue Diät-Buch von Ulrich Strunz ist schon kurz nach Erscheinen ein Bestseller. Weil wir wirklich etwas ändern wollen. Ab nächster Woche, ab dem Sommer, sobald die Kinder aus dem Haus sind. Das Dilemma beginnt, wie so oft, im Kopf. Bewegung macht keinen Spaß, wenn wir uns unter Druck setzen. Eine Stunde am Stück laufen, sieben Kilo abnehmen, nie mehr fett essen - wer zu viel will, macht am Ende gar nichts. Erleichterung bringen zwei gute Nachrichten aus der Sportmedizin. 1. Es ist nie zu spät, und 2. Wenig hilft. Noch vor zehn Jahren hielten Mediziner Sport im fortgeschrittenen Alter geradezu für schädlich. Skandinavische Wissenschaftler haben erst vor kurzem den Gegenbeweis angetreten: Herz und Muskeln sind selbst in hohem Alter trainierbar. Nur drei Monate Muskeltraining brachte bei älteren Menschen zwischen 63 und 90 einen Kraftzuwachs von 50 Prozent. Das Zweite ist: Moderates Ausdauertraining bringt für die Gesundheit mehr als hartes Schinden. Der Grundwehrdienst ist ein für allemal vorbei und auch der fiese Schulsport. Lieber mehrmals in der Woche 20 Minuten locker laufen, als zwei Stunden atemlos zu squashen. Wer sich so bewegt, dass er angenehm ins Schwitzen kommt, tut seinem Körper Gutes. Er steigert den Energieumsatz, die Muskeln arbeiten, die Fettzellen schmilzen. "Wenn Sie nach dem Training denken: ,Das wars schon?', haben Sie alles richtig gemacht", gibt der Arzt Dr. Ulrich Strunz als Richtwert aus. Das kann man zwar lesen, begreifen aber kann man es nur in der Praxis. Was zählt, ist eine Politik der kleinen Schritte. Wenn Sie sich anfangs zehn Minuten bewegen, seien Sie stolz! Mit der Routine und dem Fortschritt, der sich zwangsläufig einstellt, kommt der Spaß von selbst. Ungefähr sechs Wochen braucht es, sagen Verhaltensforscher, bis etwas zur Gewohnheit wird. Viele Menschen sind überrascht, wenn sie nach Jahren der Passivität ihren Spieltrieb wiederentdecken und endlich etwas für sich selber tun. "60 Zigaretten habe ich am Tag geraucht", erinnert sich Angelika Bittner (55) aus Hamburg an vergangene Zeiten. Nur auf Drängen ihres Sohnes belegte sie im Herbst einen Laufkursus. "Ich wollte ihm beweisen, dass das nichts für mich ist!" Es kam anders. Seit Oktober dreht sie nun drei Mal in der Woche ihre Runden im Stadtpark. Aus fünf Minuten am Stück wurden inzwischen 25, Zigaretten interessieren sie nicht mehr. "Ich bin unglaublich stolz, dass ich das schaffe", sagt die sportliche Späteinsteigerin. "Auch meine Stimmung ist regelmäßig super." Sie bestätigt damit eine weitere Erkenntnis: Bewegung vertreibt diffuse Ängste. Der Körper wirkt auf die Seele zurück. Wer Sport treibt, dem geht es besser. Das größte Geheimnis liegt wohl im Gehirn. Bei körperlicher Bewegung werden die grauen Zellen mit mehr Sauerstoff durchflutet. Das erleichtert das Denken und setzt Kreativitätshormone frei - in weit größerem Ausmaß als bislang angenommen. Probieren Sies aus. Abhängen können Sie danach immer noch. Mit gutem Gewissen.